2015 wurde die Initiative Sorgekultur ins Leben gerufen. Warum?
Gerda Graf: Entstanden ist sie auf Grundlage der Sterbehilfedebatte, die bis in den Bundestag hohe Wellen geschlagen hat. Will Deutschland eine aktive Sterbehilfe wie in den umgrenzenden Ländern? Da haben sich meines Erachtens die Politiker sehr viel Zeit gelassen. Das war der Anlass, aus dem wir gesagt habe: Jetzt müssen wir mal „querdenken“. So hieß dann der Titel einer Gesprächsreihe, zu der wir Theologen, Mediziner, Soziologen, Politiker und Unternehmer, Arbeitnehmer und Jugendliche eingeladen hatten. Die Älteste war 90 Jahre alt, die Jüngsten, drei Schüler, 16 Jahren. Wir hatten über 50 Menschen unterschiedlicher Couleur, die sich mit den Fragen auseinander gesetzt haben, „Was ist Ethik?“, „Was ist ein ethisches Dilemma?“– beispielsweise in der Sterbehilfe – und „Wie gehen wir damit in unserer Gesellschaft um?“
Das war aber nur der Anfang.
Graf: Es war schnell klar: Wir müssen viel früher anfangen, uns um den Menschen zu sorgen, nicht erst am Lebensende. Wir sehen, dass es ethische Dilemmas gibt, die uns ein ganzes Leben lang begleiten.
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Maas: Einer der Schüler erzählte etwa, dass er das ethische Dilemma seiner Mutter sieht, weil sie ihre Kinder mittags alleine lässt, weil sie arbeiten muss. Er sagte: „Das würde ich ihr gerne nehmen. Aber ich weiß, dass ich es nicht kann.“ Ein Arzt spricht natürlich von dem Dilemma in Bezug auf das Lebensende. Ob es in der Onkologie ist, und der Frage, wie lange soll ich eine Behandlung fortsetzen? Wie gehe ich mit Angehörigen um? Wie gehe ich mit den Beschränkungen um, die das Gesundheitswesen vorgibt? Das ist für uns als Ärzte auch ein Problem. Ein Unternehmer, der überlegt, wie es gelingt, dass seine Mitarbeiter zufrieden sind, die Familie sieht – wie das früher auch üblich war in kleinen oder mittleren Betrieben. Hat er nicht drei Kinder unversorgt zu Hause und muss mal weg und traut es sich nicht zu sagen. Gibt es eine finanzielle Notlage oder anderes mehr.
Das ist die Erkenntnis und wie ist die Konsequenz?
Graf: Wir haben eine Ethik-Carta erarbeitet, in der neun Grundsätze zu unserer Haltung formuliert wurden. Sie wurde letztes Jahr von vielen Einzelpersonen und Institutionen unterzeichnet. Die 15 Bürgermeister im Kreis Düren haben uns in ihre Kommune eingeladen. Elf Termine mit Stadträten haben bereits inklusive Unterzeichnung stattgefunden. Außerdem haben wir in den Gemeinden ein bis zwei Sorgebeauftragte gefunden, die Ansprechpartner vor Ort sind, wenn es Sorgen und Nöte gibt. Außerdem arbeiten wir an einer Internet-Plattform, die wir „Sorgekompass“ nennen. Alle Hilfsangeboten im Kreis Düren von basta über Tafeln bis Kleine Hände sollen dort zu finden sein. Wir wollen es sehr niederschwellig halten, so dass jemand, der beispielsweise „Hunger“ eingibt etwa zur „Tafel“ kommt. Das Projekt betreuen ehrenamtlich Michael Glier und Sonja Assmann.
Maas: Die Idee der Sorgekultur ist es, es nicht bei der Vermittlung von Hilfe bewenden zu lassen, sondern wir prüfen, wie die Vernetzung gelaufen ist. Stichwort. Evaluation… oder einfach ausgedrückt: ob es klappt.
Wenn ich willig bin, mich einzubringen, an wen kann ich mich wenden?
Maas: Der kann sich an den örtlichen Koordinator, den Sorgebeauftragten wenden, der vermittelt dann in einzelnen Notfällen, etwa wenn es darum geht, dass jemand den Einkauf übernimmt oder die Kinder gehütet werden müssen. Man muss natürlich im Vorfeld wissen, was man „anbieten“ kann.
Graf: Wir schalten etwas vor, wir versuchen nach der letzten Sequenz in der Marienkirche ein Bildungsangebot zu entwickeln. Dass die Menschen sich noch einmal mit dem Thema Sorgekultur beschäftigen. Was wir in mühsamer Kleinarbeit mit achtmaligen großen Sitzungen erarbeitet haben, da versuchen wir mit verschiedenen Akteuren zu überlegen: Was müssen die Menschen wissen, um befähigt zu werden, um aktiv zu werden, ohne sich selbst zu überfordern.
Wenn ich sehe, unsere Hospizbeauftragten haben sich vorher über 100 Stunden auch theoretisch mit dem Thema auseinander gesetzt. Sie hätten ja schon eine Basis. Hier sollen Themen angesprochen werden wie „Was verstehen wir unter Mitmenschlichkeit?“, „Was ist Haltung?“, Was ist ein ethischer Dialog?“ Das sie so eine Grundvoraussetzung, ein Rüstzeug haben. Da stellen wir uns zwei bis drei Abende vor und dort wäre jeder eingeladen. Und dann könnte es jeder mit dem anderen Blick, den er gewonnen hat, in seine Gemeinde tragen. Wenn es uns dann noch gelingt, einen Bürgerdialog in den Gemeinden zu installieren, damit wir anstoßen, dass der eine mehr auf den anderen achten muss als bisher, dann ist man genau da, dass dieses aufeinander achten auch andere Sorgestrukturen stattfinden, das man sie auf- und ausbauen kann.
Maas: …dann fällt es vielleicht auch auf, dass man jemanden sieht, der nicht um Hilfe schreit, sondern den man von sich aus bemerkt und selbständig dort hingehen kann. Der dann nicht drei Tage verstorben in einer Wohnung liegt, weil er sich nicht bemerkbar gemacht hat.
Hilfe muss aber auch angenommen werden.
Maas: Es ist ja auch schwer, die Hilflosigkeit, die man an sich selbst merkt, anzunehmen. Graf: Die Bescheidenen fallen oft durch unser Raster. Da müssen wir auch lernen, noch mal anders hinzugucken.
Graf: Die jetzige Generation als Erbauer und Aufbauer tut sich schwer. Es gibt auch den Umkehrschluss: Die Jugend, die jetzt heranwächst, Wie der Soziologe Gronemeyer es formulierte: „Unsere Kinder werden plastikvermüllt in ihren Kinderzimmern wie Prinzen und Prinzessinnen groß – und sie haben keine Aufgabe mehr.“ Weil wir ihnen keine Aufgabe geben. Er hat dann berichtet, wie es in Afrika läuft, wo die Kinder vor der Schule erst noch weit weg Wasser holen müssen, Tiere versorgen müssen und dann erst zur Schule gehen. Er sagt: Diese Kinder strahlen. Diese nicht mehr Aufgabenorientierte, wo ist das Problem, dass ein Kind morgens mit den Tisch deckt? Warum wird es als Prinz und Prinzessin groß? Ich glaube, dass da eine Generation heranwächst, die genau gegenteilig ist. Die so ihre Ellbogen nutzen wird, dass wir auch dann den anderen nicht mehr sehen.
Maas: …auch den Ellbogen benutzen muss, weil die Gesellschaft rücksichtsloser geworden ist, im Geschäftsleben, im Kampf um den Arbeitsplatz
Graf: Wenn viele rücksichtslos werden, dann ist die Gefahr, dass alle rücksichtslos werden, größer. Das ist auch ein Auftrag von Sorgekultur. Da genau hinzugucken.
Im Zusammentragen des Netzwerkes – da sehe ich einen großen Nachholbedarf…
Graf: Das sehen wir auch so. Wenn es uns gelingt, die Internet-Plattform so aufzubauen, dass alle Hilfsangeboten, die es im Kreis Düren gibt, zu bündeln, wäre es auch die koordinierende Stelle, bei der jeder anrufen könnte. Diese Stelle müsste sagen: Ja, ich vermittle, aber es bleibt nicht dabei, sondern es wird auch geguckt, ob es auch gut geworden ist. Das wäre für uns noch wichtig, dass wir eine neutrale Stelle finanziert bekämen, und dass man auch im Sinne einer Evaluation auch ein Forschungsprojekt daraus entwickelt. Ohne Daten und Fakten gehtz es nicht.
Maas: Da ist Frau Baumann-Hölzl sehr aktiv.
Welche Zeitschiene schwebt Ihnen vor? Das soll hier ja nicht zuende sein.
Graf: In der letzten Hospizzeitschrift ist auch schon was erschienen,
Wenn uns in Kreis und Städteso eine Initialzündung gelänge – und tatsächlich haben sich schon ein/ zwei Leute gemeldet – einer aus dem Emsland und einer aus Oberhausen: Können wir uns nicht noch einmal zusammensetzen, so etwas ähnliches haben wir schon.
Maas: Da muss man auch mal an die Politiker herantreten. Weil schönreden alleine reicht nicht. Da müssen auch finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Da hapert es immer ein bisschen. Ich habe den Eindruck, dass man da auch etwas mehr tun könnte – auch in den Kommunen vor Ort. Aus dem Etat etwas für diesen Zweck bewilligen. Das gilt auch für die kirchlichen Gemeinden, die ja schon involviert sind in Düren. Wenn man aber sagt, wir brauchen auch ein bisschen Mittel für, damit wir weiterarbeiten können, scheitert es. Reden und überzeugt sein ist gut, aber wenn es darum geht, dass Portemonnaie aufzumachen, um es weiter entwickeln zu können.
Fehlt die Erkenntnis, dass hier ein Präventionsprojekt installiert werden soll, dass spätere gesellschaftliche Probleme und daraus erwachsende Kosten mindern kann?
Maas: Das müssten sie eigentlich verstehen und nicht nur in Wahlperioden denken. Da kann vielleicht auch erst in zehn Jahren eine Erfolg zu sehen sein, aber dann spart man deutlich ein – und das doppelt und dreifach.
Graf: So ist es. Wenn es uns gut gelingt, dann hat das zur Folge, dass alte Menschen länger zu Hause bleiben können und damit für den Staat volkswirtschaftlich schon wieder ein Sparpotential darstellt. Wenn es uns gut gelingt, dann werden Jugendliche vielleicht nicht mehr wie bsiher auf der Straße landen oder beim Jugendamt oder nachher schwer vermittelbar sein – und darum müsste jeder Kommunen einen Beitrag leisten – und wenn es nur ein kleiner Obolus ist. Die Leistungen, die die Hospizbewegung derzeit für das Projekt erbringt, werden wir auf Dauer nicht tragen können.
Gott sei Dank steht uns die Marienkirche kostenfrei zur Verfügung und es gibt Menschen, die uns beim Stühlerücken helfen – das sind natürlich alles Geschenke. Aber grundsätzlich müsste man sagen, damit wir gut weiterarbeiten können, bräuchte es eine Anerkennung. Mir würde es reichen, wenn jede Kommune sagen würde, wir geben jedes Jahr 1000 Euro – dann hätte man aber schon mal einen Grundstock.
Maas: Und es gibt ja auch Menschen, die müssen ihren Lebensunterhalt noch verdienen und die sich da Ehrenamt nicht leisten können, auch wenn sie es wollen.
Graf: Ob das die Kirche ist, die Gemeinde ist, wir haben auch eine aus der Krankenkasse dabei, die prüfen will, ob und wie eine Vergütung möglich ist. Es ist ja eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wir wollen auch die Neutralität waren. Wo kommt jemand her, welches Geschlecht hat er und welche Religion.
Maas: So soll es auch sein!