Auf ihrer Homepage bezieht die Berlinale (Selbstdar-)Stellung: „Der Wettbewerb ist das Herzstück und die Visitenkarte des Festivals. Er bietet einen detaillierten Einblick in die Gegenwart und die Zukunft des Kinos. Der Wettbewerb zeigt die besten Filme der Auswahl eines Kinojahrgangs – unabhängig davon, ob sie von etablierten Regisseur*innen oder Nachwuchstalenten stammen. Als Gravitationszentrum des Festivals bündelt der Wettbewerb die Energie der Berlinale und strahlt in die Welt hinaus. Er steht im Fokus der Aufmerksamkeit und zeigt einige der meist-diskutierten Filme des Jahres, die oft hitzige Debatten anregen. … Er reflektiert die Welt, in der wir leben, und setzt sich zu ihr in Beziehung: Die Filme ermöglichen den Zuschauer*innen, ihren eigenen Platz in der Welt besser zu verstehen und den Standpunkt anderer Menschen zu respektieren.“
Zudem versteht sich die Berlinale auch unter der neuen Leitung weiterhin als ein politisches Festival. Die Berliner Filmfestspiele werden von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien wesentlich gefördert. Kulturstaatsministerin Monika Grütters ergriff bei der Eröffnung mit klugen Worten Partei für Demokratie und Freiheit als Reaktion auf die kurz zuvor verübten Morde von Hanau. Ein dunkler Schatten lag über der festlichen Eröffnung.
Tröstlich war immerhin, dass das Ende Dezember in China zum ersten Mal auftretende Coronavirus die Berlinale nicht zu Fall brachte. Einige Wochen später und die Bilanz hätte nicht so gut ausgesehen: Rund 22.000 Fachbesucher aus 133 Ländern kamen zum Festival. Ihren Ruf als Publikumsmagnet hat die Berlinale mit rund 330.000 verkauften Tickets erneut bekräftigt. Wir geben Monika Grütters Recht, wenn sie resümiert: „Die Berlinale hat ihren Anspruch als dezidiert politisches Filmfestival gerade in diesem Jubiläumsjahr eindrucksvoll bewiesen.“ In einem spannenden Programm habe die Berlinale „die Themen unserer Zeit verhandelt, menschliche Schicksale hinter abstrakten gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar gemacht und ja: auch die Grenzen des künstlerisch Zumutbaren zur Disposition gestellt“.
Als wir „Sheytan Vojud Nadarad“ („There Is No Evil“; „Es gibt kein Böses“) des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof sahen, war sofort klipp und klar: Das ist der Gewinner des Goldenen Bären für den besten Film. Die anschließende Pressekonferenz war berührend. Die Produzenten der iranisch-tschechisch-deutschen Koproduktion standen Rede und Antwort. Der Stuhl des Regisseurs blieb leer, Ausreiseverbot. Seine Tochter Baran Rasoulof, die als Schauspielerin an dem Episodenfilm beteiligt war, nahm später den Goldenen Bären stellvertretend entgegen. Mohammad Rasoulof war 2019 Jahr wegen „Propaganda“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, war aber bislang innerhalb der Landesgrenzen auf freiem Fuß. Wenige Tage nach der Preisverleihung wurde er per SMS aufgefordert, sich beim zuständigen Richter zu melden und seine Haftstrafe anzutreten. Die Haftanstalten sind überfüllt. Sein Anwalt riet ihm, der Aufforderung wegen der Coronavirus-Krise nicht nachzukommen.
In dem eindrucksvollen Film, dessen Vorführung wir für Jülich ersehnen, geht es um die Todesstrafe im Iran. Vorher „Gute Unterhaltung“ zu wünschen, wäre sarkastisch, vielleicht eher „einen anregenden Filmabend“ oder einfach „eine gute Projektion“, wie wir es oft in Berlin hören. Wir möchten im Vorhinein nicht zu viel zu den Figuren, der Handlung und den Verflechtungen sagen. Andererseits möchten wir nicht unerwähnt lassen, dass der von Tragik durchzogene Film, der nicht an Schockelementen spart, doch auch einfach spannend ist und voll menschlicher Wärme. Es bleibt Raum für Hoffnung. Schuld und Verzeihen sind Thema, auch Ohnmacht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind sehr gut, und außerdem bekommen wir wunderschöne Landschaften des Iran zu sehen.
Vor fünf Jahren hat schon einmal ein iranischer Film den Goldenen Bären bekommen. Das war „Taxi Teheran“, eine iranische Dokufiktion von Regisseur Jafar Panahi. Der mit einem Berufsverbot belegte Regisseur hatte den Film wie bereits zwei Filme zuvor heimlich produziert und zur Präsentation auf internationalen Festivals außer Landes geschmuggelt.
Unserer Meinung nach hätten wir auf einige Wettbewerbsfilme auch gut verzichten können. Die Reihe Berlinale Special bot Interessantes. Im Mai-Heft würden wir gerne einige Beispiele daraus vorstellen: „Charlatan“, „Minamata“, „My Salinger Year“ oder „Curveball“ zum Beispiel.