Bomben fallen. Das Haus ist ein Meer aus Stein. Die Familie hat ihr Zuhause verloren. Was Anas Salhani im Handy-Video aus seiner Heimat in Syrien zeigt, ist schwer zu ertragen. Da sind Krieg, Gewalt, Zerstörung plötzlich ganz nah, greifbar und sehr persönlich. Der Verlust von Heimat ist aber erst der Anfang der dramatischen Familiengeschichte, die es mühelos mit Hollywood-Blockbustern aufnehmen kann. Schon deshalb, weil sie kein Einzelfall ist, und trotzdem den Menschen in Europa im 75. Friedensjahr nach dem großen Weltkrieg die Vorstellungskraft für dieser Unvorstellbarkeit fehlt.
Es ist das Jahr 2015. Mohammed, ein Maßschneider von einigem Ansehen, und seine Frau Rabba entscheiden sich zur Flucht aus dem syrischen Kriegsgebiet. Ihre Welt liegt in Trümmern. Ihr Hab und Gut müssen sie zurücklassen. Sie tragen Verantwortung für die Zukunft ihrer Töchter Youmna und Joudi, die zu diesem Zeitpunkt gerade 9 und 12 Jahre alt sind. Der 20-jährige Sohn Anas steht den Eltern zur Seite.
Zwischenstation Türkei: Vater Mohammed hat Arbeit gefunden, eine kleine Wohnung ist angemietet, aber die Perspektiven sind schlecht. Die türkische Regierung übt Druck auf Flüchtlingsfamilien aus. Die Mädchen können die Schule nicht besuchen und Anas steuert durch Gelegenheitsarbeiten seinen Teil zum Lebensunterhalt bei. Das, so der junge Mann, ist keine Perspektive. Dem „Familienrat“ teilt er seine Pläne mit: Er will die Flucht nach Europa wagen und seine kleine Schwester Youmna mitnehmen. Die Eltern sollen mit Joudi nachfolgen. Eine schwierige Entscheidungen: Die Eltern müssen diese Reise ihrer Kinder ins Ungewisse zustimmen. Was die Trennung für das Kind bedeutet, ist kaum vorstellbar, ganz abseits von der Angst, was es wohl an Gefahren zu erwarten hat. Zwei Fluchtversuche werden durch die türkische Polizei vereitelt, ehe die Geschwister mit einem kleinen Boot mit rund 50 anderen Menschen das Übersetzen auf die klein griechische Insel Mytilini gelingt. Von dort aus geht es per Schiffspassage aufs Festland und dann sind es vor allem die eigenen Füße, die tragen. Bruder und Schwester schließen sich einer syrischen Familie an, die Kleinstkinder hat. Gegenseitig unterstützt man sich. Ein schmales Fenster einer Grenzöffnung bei Bulgarien können Anas und Youmna nutzen. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Deutschland das Ziel sein wird. Über die Nachrichtenkanäle via Handy erfahren sie: Österreich und Dänemark nehmen keine Flüchtlinge mehr auf – nur noch Deutschland.
Titz, 2015 bis 2018. Auf sich alleine gestellt leben die Geschwister in einer kleinen Wohnung. Eine 80-jährige Nachbarin nimmt sich ihrer an, hilft ihnen, die ersten Klippen zu überwinden. Mit den Eltern wird per Telefon Kontakt gehalten. Das ist aber nicht einfach, denn die WLAN-Verbindung in der Türkei ist äußerst fragil. Während die Neunjährige zur Grundschule geht, lernt Anas Deutsch im Integrationskurs. Er ist gebrochen, depressiv und leidet unter der Last der Verantwortung für Schwester und Eltern in der Türkei. So lernt ihn Mo Khomassi kennen, der selbst vor 30 Jahren als Flüchtling aus dem Libanon nach Deutschland kam. Und heute im Bereich Asylbetreuung bei der Stadt Jülich arbeitet. Der Wahl-Jülicher nimmt den jungen Syrer unter seine Fittiche. Damals konnten die Männer nicht ahnen, dass es noch drei Jahren dauern sollte, bis die Familie endlich wieder um einen Tisch sitzen würde.
Umzug nach Jülich. Youmna geht inzwischen zur Sekundarschule, Anas hat eine Lehrstelle als Chemielaborant beim Forschungszentrum Jülich. Mo Khomassi schreibt Briefe. Die Ausländerbehörde weist die Einreise-Anträge ab. Im Mai 2019 scheint dann alles plötzlich ganz schnell zu gehen: Rabba, Mohammed und Joudi Salhani bekommen die Aufforderung, ihre Visa abzuholen. Welch ein Schock, als der Familie in der Botschaft mitgeteilt wird, dass zwar die Eltern ausreisen dürfen, die 17-jährige Tochter aber kein Visum erhält. Die Familie entscheidet sich für eine weitere Trennung: Die Mutter fliegt nach Deutschland, Vater und Tochter bleiben zurück. Mit Engelszungen spricht Mo Khomassi auf die Familie ein: Der Vater muss nach Deutschland kommen, damit das Visum nicht verfällt.
Ab diesem Zeitpunkt gibt es kein zurück mehr. Denn bei der Einreise zieht die Ausländerbehörde erst einmal den Pass ein. Erst nach der Anerkennung als Flüchtling durch das „BaMF“, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, wird der Pass zurückgegeben. Anas erhielt erst anderthalb Jahre nachdem er in Deutschland angekommen war, seine Papiere zurück. Freizügigkeit gibt es für die Familie trotzdem nicht. Sie können innerhalb Deutschlands reisen, verwirken ihren Asyl-Status aber sofort bei einer Ausreise in ein anderes Land. Das gilt übrigens auch, wenn sie die syrische Botschaft betreten würde. Will Anas in Deutschland beispielsweise heiraten, müsste er die Geburtsurkunde aus Syrien bekommen. Setzt er einen Fuß in die Botschaft, müsste der Syrer trotz Ausbildungsplatz, eigenem Einkommen und festem Wohnsitz mit der Ausweisung rechnen. Eine absurde Situation.
Ein weiteres, nicht weithin bekanntes Detail: Um eine Einreisegenehmigung zu bekommen, mussten die Eltern Salhani ein Treuhand-Konto hinterlegen. Mindesteinlage 9000 Euro. Nur mit Unterstützung von Verwandten in Europa ist dies gelungen.
Während die Eltern diese Formalitäten in Deutschland bewältigen, bleibt Joudi alleine in der Türkei zurück. Es dürfte die wohl schwierigste Entscheidung für die Eltern gewesen sein. Die türkische Familie, bei der Joudi untergebracht ist, setzt das Mädchen vor die Türe, als Erdogans Helfer die Gastfamilie unter Druck setzen. Aufnahme findet Joudi in einer syrischen Familie. Nur mit dem Einsatz von Dezernentin Doris Vogel, Asylberaterin Andrea Klein und Mo Khomassi und unter Nutzung der Schiene „Jülich-Berlin“ zum Büro Dietmar Nietan gelingt es schließlich, die Ausreise für Joudi zu erwirken. Dafür ist eine Bürgschaft nötig, die eine Freundin der Asylberaterin privat übernimmt. Am 31. Oktober 2019 ist die Familie nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder vereint. Ein Feiertag, für den Anas und Youmna, Raaba und Mohammed ihre besten Kleider anzogen, um am Düsseldorfer Flughafen auch das letzte Familienmitglied wieder in die Arme zu schließen.
Heute: Vor der Türe stehen die Schuhe in Reih und Glied. Im gefliesten Wohnzimmer, das über ein Fenster in der Dachschräge beleuchtet wird, dominieren zwei große Couchs das Zimmer. So ganz verarbeitet haben aber alle Salhanis diese Jahre sichtbar noch nicht. Sie sitzen um den Wohnzimmertisch herum Mohammed und Rabba Salhani mit ihren Töchtern Youmna (14) und Joudi (17), während Sohn Anas (25) auf einem der beiden Stühle Platz genommen hat. Besonders schweigsam und in sich gekehrt ist Joudi. Trotzdem gibt es schon Pläne für die Zukunft. Die Eltern und Joudi lernen gerade Deutsch. Mohammed möchte gerne wieder als Schneider sein Brot verdienen, sobald er der Sprache mächtig ist. Anas will die Ausbildung abschließen, Youmna träumt davon, Ärztin zu werden. Vor allem aber sucht die fünfköpfige Familie, die sich derzeit eine Zwei-Zimmer-Wohnung teilt, eine neue Bleibe. Sie erzählen und lachen mit Mo Khomassi. „Man hätte sich vor einem halben Jahr nicht vorstellen können, dass wir zusammensitzen und lachen!“
Spricht‘s und hat schon die nächste Familien im Blick: Es gibt noch ein zweites Mädchen, das in Syrien auf seine Ausreise zur Familie wartet. Sie ist jetzt 18 geworden. „Das wird schwierig“, sagt Mo Khomassi. „Aber das Gute ist: Jetzt haben wir die Wege verstanden, um helfen zu können.“