Erstens: Recht ist Auslegungssache.
Zweitens: Das (Zivil)Gericht war nicht dabei und lebt vom schlüssigen Vortrag der Parteien.
Wir stolpern in unserem hochgeachteten und in seinen Grundzügen seit weit über 100 Jahren unverändert gebliebenen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) über unbestimmte oder wertende Rechtsbegriffe wie „Treu und Glauben“, „billig“, „zumutbar“ oder „wichtiger Grund“. Begriffe ohne klar definierte Bedeutung befeuern die Freiheit zur richterlichen Auslegung und Ausgestaltung. Solche rechtlichen Unsicherheiten und Unklarheiten der wertenden Rechtsprechung wirken sich natürlich auch auf die emsige Arbeit des Rechtsanwalts aus.
Die Gretchenfrage der meisten Mandanten lautet doch: „Herr Rechtsanwalt, gewinne ich den Prozess oder nicht?“ Und der ehrliche Anwalt erwidert dann wahrheitsgemäß: “Es kommt darauf an…“ Es kommt nämlich z.B. darauf an, welches Gericht mit welcher vorherrschenden Rechtsmeinung bei der Entscheidungsfindung maßgeblich ist, ob und welche Beweismittel vorhanden sind oder wie sich die Beweislastverteilung darstellt. Nach Art. 97 Grundgesetz ist der Richter unabhängig in seiner Entscheidungsfindung und allein dem Gesetz unterworfen. Der Rechtsanwalt kennt natürlich seine heimatliche Gerichtsbarkeit und kann seinen Mandanten dort recht zuverlässige Ergebnisprognosen verkünden, darüber hinaus ist man aber vor Gericht wie auf hoher See in Gottes Hand.
Und ob die richterliche Entscheidungsfindung auch der tatsächlichen Wahrheitsfindung entspricht, ist kein Selbstläufer.
Recht haben heißt eben nicht ohne weiteres Recht bekommen.
Viele Menschen glauben, dass das Gericht selbst den maßgeblichen Sachverhalt ermittelt und damit die Wahrheit erforscht. Das ist aber nicht der Fall. Die Prozessparteien beherrschen den Prozessverlauf (sog. Dispositionsmaxime) und müssen die Beweise für die sie günstigen Sachverhalte und Behauptungen liefern (sog. Beweislast).
Viele Prozesse entscheiden sich ausschließlich im Zuge der Beweislastverteilung, so dass dem Richterspruch gelegentlich in Ermangelung eines Beweismittels oder einer „schlechten“ Zeugenaussage ein falscher Sachverhalt zugrunde gelegt wird, also nicht derjenige das Recht bekommt, der objektiv im Recht ist.
Recht haben und Recht bekommen kann also die klassische Quadratur des Kreises bedeuten.
Diese Inkongruenz des Gerechtigkeitsbegriffes wird im Übrigen auch dann deutlich, wenn beide Konfliktparteien Recht haben.
Dazu die folgende Geschichte vom Rat des Rabbi:
Ein Ehemann kommt erzürnt und empört zum Rabbi. Er beklagt den Dauerstreit mit seiner zänkischen, bösen Ehefrau. Tagtäglich würde sie ihn mit herablassenden Bemerkungen traktieren und mit verletzender Gefühlskälte begegnen. Der Rabbi hört dem aufgelösten Ehemann verständnisvoll zu, um ihm am Ende des Gesprächs zu versichern, er habe voll und ganz Recht mit seiner Klage. Nach einiger Zeit kommt die nämliche Ehefrau zum selbigen Rabbi. Sie trägt ebenso viele Gründe vor, dass ihr Ehemann ständig mit ihr streite. Auch ihr schenkt der Rabbi seine ganze Aufmerksamkeit und kommt zu dem Schluss, sie habe Recht mit ihrer Klage über den Ehemann. Zufällig hat die Ehefrau des Rabbi dessen Gespräche belauscht. Sie wundert sich über die Ratschläge, die er den Eheleuten gegeben hat. Sie wirft dem Rabbi Versagen vor, er habe keinen guten Rat gegeben: Denn dass beide Eheleute Recht haben, ginge auf gar keinen Fall. Es könne doch nicht sein Ernst sein, dass beide Recht hätten.
Da versichert ihr der Rabbi: Ja, da hast du völlig Recht…beweis
Beide Parteien haben Recht?
Ja, das kann es vor allem aus jeweils subjektiver Sicht geben.
Wann lohnt es sich dann zu streiten?
Oder zu kämpfen, um Recht zu bekommen?
Muss es einen Sieger geben, was wir eigentlich gewohnt sind?
Oder sollte man es doch besser mit einem Nachgeben versuchen?
Denn der Klügere gibt doch nach.
Wie wäre es zu akzeptieren, dass beide Recht haben, das Kriegsbeil also gar nicht auszugraben.
Eine für den Normalmenschen allzu hohe Form der Toleranz!?
Also auch hier taucht sie wieder auf: Die Quadratur im Kreislauf Recht haben und Recht bekommen.
In einer gut funktionierenden Ehe könnte man hingegen das ansonsten Unmögliche möglich, mithin den Kreis eckig machen, indem die Eheleute folgendem Postulat folgen:
„Der Ehemann hat immer Recht und die Ehefrau entscheidet, wann er Recht bekommt!“