Im Februar 1978 sitzt ein 5-jähriges Mädchen ziemlich aufgeregt im Auto, um gezwungenermaßen eine weite Fahrt ins Unbekannte zu unternehmen. Sie teilt das Schicksal vieler Kinder aus Familien, die aus beruflichen Gründen den Wohnort wechseln müssen. Was weint das kleine Mädchen der besten Freundin hinterher. Wird man sich je wieder sehen? Die Dimensionen sind so unüberschaubar: Es geht von Grevenbroich nach Jülich…
Der Vater arbeitet bei Rheinbraun, dem heutigen RWE Power, und es steht eine große Vision im Raum: Zwischen Jülich und Elsdorf – mitten im Herzen des Rheinischen Braunkohlenreviers – soll das größte Loch der Welt entstehen: Der Tagebau Hambach. Denn hier, wo vor 20 Mio. Jahren noch ausgedehnte Wälder zu finden waren, befindet sich eine der größten Braunkohle-Lagerstätten der Welt.
Und bei allem Ärger über den Umzug ist das kleine Mädchen auch ein bisschen stolz auf seinen Vater, wird er doch immerhin mitverantwortlich sein für dieses XXL-Unterfangen.
Erst sechs Jahre später, 1984, ist dann allerdings der ganz große Augenblick gekommen: Die erste Kohle wird endlich gewonnen.
Heute ist das „Loch“ 370 Meter tief. Unter seinem 85 Quadratkilometer großen Abbaufeld lagern 2,5 Milliarden Tonnen Braunkohle, die bis zu 450 Meter tief liegen.
In diesem XXL-Loch darf sich der Vater des kleinen Mädchens also viele Jahre lang austoben. Und da gibt es keine halben Sachen. Im Tagebau Hambach arbeiten die größten Bagger der Welt: Sie sind 220 Meter lang, 96 Meter hoch und 13.500 Tonnen schwer. Und sie können täglich 240.000 Tonnen Kohle oder Kubikmeter Abraum fördern – genug, um ein Fußballstadion 30 Meter hoch zuzuschütten.
In jede einzelne Schaufel der großen Schaufelradbagger kann sich gemütlich ein VW Käfer einschmiegen. Das kleine Mädchen hat dies einmal bei einem Tag der offenen Tagebau-Tür live erleben und bestaunen können, als der Vater mit ihm gemeinsam tatsächlich in einer solchen Schaufel einparkte. Und als das Mädchen einige Jahre später den Führerschein machen wollte, bettelte es seinen Vater erfolgreich an, doch bitte mir ihr auf dem Werksgelände in eben diesem Auto dafür zu üben.
Das war 1989 – im Jahr des Mauerfalls. Mit Grenzöffnung begann auch die Verbrüderung mit den Braunkohletagebauen Ostdeutschlands. Das kleine Mädchen wird seinem Vater ewig dankbar sein, dass er nicht auf die Idee kam, im Osten bei einem weiteren XXL-Loch mitgraben zu wollen.
Denn inzwischen denkt, fühlt und lebt das kleine Mädchen fast wie eine Muttkrat – dem Sog der Herzogstadt verfallen…
Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück in der Geschichte des Tagebaus Hambach: Unser kleines Mädchen erinnert sich noch gut daran, wie ihre Mutter in den ersten Jahren des Tagebaus mit einem feinen Haarpinsel die Buchstaben einiger Briketts mit Sonderprägungen der ersten Tage vorsichtig bunt bemalte.
Ob der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt ein solches Brikett bekommen hat, weiß das kleine Mädchen nicht, aber dass er das größte Loch der Welt aus eigener Anschauung beurteilt hat, wird ihr Vater wohl nie vergessen. Mit einem XXL-Hubschrauber wurde der Kanzler eingeflogen und die Lochmacher-Brigade wollte einen würdigen Empfang bereiten und hat extra Holzbretter ausgelegt vom vorgesehenen Landeplatz des Hubschraubers bis zu einem Podest, von welchem aus der Kanzler eine kleine Ansprache halten wollte. Die Anziehungskraft der Rotoren hatten sie dabei allerdings unterschätzt und es ist der Reaktionsschnelle des Piloten zu verdanken, dass es nicht zu einer XXL-Katastrophe im Tagebau Hambach kam, denn der zog den Hubschrauber in einer waghalsigen Aktion schnell noch einmal hoch, man nahm die Bretter weg und der Kanzler marschierte gesund durch den lockeren Tagebausand.
Nicht nur für dieses Ereignis greift die typische Haltung des Rheinlands: „Et hätt noch immer jot jejange“. Allem Gegenwind trotzend werden inzwischen pro Jahr rund 40 Millionen Tonnen Braunkohle im Tagebau Hambach gefördert.
Aber von Anfang an und bis heute sind nicht alle Menschen begeistert vom XXL-Loch. Feinstaubbelastung und Lärmbelästigung sind gängige Begriffe und die Abholzung des Hambacher Forstes wird von Umweltaktivisten öffentlichswirksam kritisiert. Vor allem aber die Entwurzelung ganzer Ortschaften und ihrer Menschen wird diskutiert.
Mit diesen Menschen hegt das kleine Mädchen große Sympathien, teilt es doch irgendwie ihr Schicksal. Nicht verwunderlich also, dass es viele Jahre später bewusst in den Umsiedlungsort Lich-Steinstraß zieht.
Exkursionsort und Ausflugsziel der späten 80er Jahre für Touristen sowie Architektur- und Geographiestudenten aller umliegenden Universitäten: Immer wieder werden Busse nach Steinstraß gekarrt, in diesen Vorzeigeort gelungener Umsiedlung…
Aus den Fehlern der ersten großen Umsiedlung haben die Lochmacher gelernt, alle späteren Umsiedlungen stellen sich anders dar, eher XXS als XXL.
Kritiker des Tagebaus verstummen nahezu alle, wenn sie sich auf den Weg zur imposanten 200 Meter hohen Abraumhalde Sophienhöhe begeben, einem künstlichen, bewaldeten Berg, den manch einer auch salbungsvoll Monte Sophia nennt, forstlich bewirtschaftet, mit vielen Lichtungen und einigen Teichen und einer großen Artenvielfalt heimischer Tiere.
Bereits ein halbes Jahr nach dem Spatenstich begann die forstliche Rekultivierung, und inzwischen hat sich die Sophienhöhe zum weithin sichtbaren Markenzeichen des Tagebaus mit XXL-Anziehungskraft entwickelt.
Ein Netz aus Wanderwegen von über 70 KM lädt neben Spaziergängern und Joggern auch Reiter und Fahrradfahrer zur sportlichen Ertüchtigung, meditativen Erbauung, religiösen Anschauung, ganzheitlichen Entspannung oder anderen Aktivitäten ein.
Auch unser kleines Mädchen kennt die Sophienhöhe wie die eigene Westentasche. Allerdings eher aus virtueller Anschauung. Denn ihr Mann nutzt sie intensiv als Trainingsberg für die Vorbereitung weiterer Alpenüberquerungen und zeichnet seine Biketouren mit Hilfe der modernen Technologie (GPS) so auf, dass all seine Freunde die Touren nachempfinden können.
Noch wächst der Tagebau Hambach. Bis 2040 wird es Kohle geben. Bis dahin waren insgesamt 15 Mrd. m3 Abraum – Kies, Sand und Ton – zu bewegen; und es bleibt ein riesiges Loch.
Was passiert anschließend mit dem XXL-Loch? Geplant ist ein gigantischer Restsee, es soll der tiefste und nach Volumen der zweitgrößte See Deutschlands nach dem Bodensee werden, befüllt mit Rheinwasser. 4200 ha Ausmaß, bis zu 400 m Wassertiefe und ein Wasservolumen von ca. 4 Mrd. m3 stehen im Raum. Die Befüllung dieses XXL-Lochs wird vermutlich erst am Ende des 21. Jahrhunderts vollendet sein.
Unser kleines Mädchen fragt sich, ob es den Statistiken zur Überalterung der Menschheit glauben darf. Falls ja, vielleicht kann es dann ja noch ein bisschen schwimmen gehen im größten Loch der Welt.