Der Begriff Sommerloch kommt aus dem Journalismus und er meint nichts weniger als das Loch in der Wolkendecke eines ausgedehnten Skandinavientiefs, dank dessen wir uns auch weiter an ungetrübten Sonnenstunden, durchwärmter Haut, Terrassenwein und lauen Johannisnächten erfreuen dürfen. Nein, das Sommerloch klafft in der Welt des journalistisch Relevanten als ein saisonaler Mangel an Parteiengezänk, Insolvenzen und Vogelgrippen. Im letzten Moment gibt es dann aber doch noch eine havarierte Bohrinsel, eine Autobombe oder ähnliches, das sich schützend zwischen uns und das aufkommende sommerliche Behagen stellt.
Die Entdeckung des Sommers und der anderen Jahreszeiten ist in der europäischen Malerei recht jungen Datums, auch dort klaffte lange ein Loch. Das Sommerblau interessierte nicht. Blau war die Farbe von Marias Mantel, das Interesse galt dem transzendenten Himmel. Eines der frühen Beispiele der Entdeckung eines irdischen Sommers ist das Bild „Kornernte“, von Pieter Breughel. Für mich ist es das Sommerbild schlechthin, denn es verbindet die Geschlossenheit des mittelalterlichen Weltbildes mit dem neuen Gefühl des auf der Erde Ankommens und eines Seins im Hier und Jetzt. Was an Sommerbildern nachfolgt, wird immer moderner und damit fragmentarisch und löchrig.
Dass mir das Bild so gegenwärtig ist, liegt daran, dass es mir oft geholfen hat, eine Bresche in die Wand des Klassenzimmers zu schlagen. Es war riesig groß und oben und unten an einer hölzernen Stange befestigt und es hätte eigentlich zusammengerollt in den Kartenraum gehört. Aber es hing all die Grundschuljahre hindurch neben der Tafel und war mir ein Tor zu einer parallelen Existenz. Jedes Bild ist ein Loch in der Wand und dieses war mein Sommerloch. Ein Blick in die Weite der Landschaft, hügelig, im Hintergrund Dörfer, ein See, Mittagspause, Figuren essen und trinken, Brot wird geschnitten, Krüge stehen griffbereit und schon war ich in einer der Gassen des schon teilweise abgeernteten Getreidefeldes verschwunden.
Ein belangloses Bild von gleichzeitig hoher existenzieller Präsenz. Sommer. Die Erlaubnis zum Leben, das Leben selbst. Da sind keiner-
lei Botschaften als der Geruch von Getreide im Mittag, von Menschen, die ihren Hunger und ihren Durst stillen, der Himmel ist gleißend, die Erscheinungen schattenlos, gegen Abend könnte es ein Gewitter geben.
Da ist noch kein gebeugter Rücken wie bei Millets Ährenleserinnen. Ein Mann, mit weit gespreizten Beinen unter einem Baum ruhend, ist wie der Sommer selbst, dieses sich Strecken und Ausdehnen in die Länge des Tages. Nichts Gedankliches, existieren, da sein.
Einmal entdeckt, greift der Sommer in der Kunst um sich und er findet seine größte Präsenz naturgemäß bei jenen Malern, die allein der Netzhautwirklichkeit folgen, den Impressionisten. Flimmerndes Licht, sanfte Schatten streicheln über Körper und dazwischen Gesichter, wie das Schaukeln von Blüten in einer Sommerwiese. “Das Frühstück der Ruderer“, von Renoir.
Da ist nichts Eckiges. Kein Schrei unter zugehaltenen Ohren, kein rotierender Himmel über zuckenden Zypressen. Da ist Luxus, Stille und Begierde, wie Matisse eines seiner frühen Bilder nannte, mit dem er der Moderne den Weg bereitet. Eine Moderne, die uns das verlorene, geschlossene Weltbild in der geschlossenen Form zurückgeben will.
Breughel stellte uns seine Schönheit in den engen Kreis der eigenen Voraussetzung.Das Getreide ist das zukünftige Brot, das Wasser wird aus dem See geschöpft, für den Schlaf sorgt die Feldarbeit. Diese Voraussetzungen
fehlen bei Renoirs fröhlicher Runde, es ist ein Sommer auf Pump, auf Vertrauen oder als eine Beschwörung, wie man will. Und schon sein Mitstreiter Manet zeigt uns das sommerliche Atelier-Boot seines Freundes Monet auf der Seine; doch im Hintergrund raucht bereits ein erster Fabrikschlot. Eine erste Beschädigung.
Wenn ich die Zeugnisse von gemalten Sommern in die Gegenwart verfolge, dann komme ich um den Maler David Hockney nicht herum. Wer einmal das farbige Spiel der Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche seiner Swimming-Pools gesehen hat, gelbe, orange und weiße Kurven und Schlängellinien im Türkis der Kacheln, der wird nie wieder einen Swimming-pool anders sehen können. Große Kunst erweitert das Instrumentarium unseres Wirklichkeitserlebens. Letztlich schafft sie damit die Wirklichkeit selbst, ein Modell und Vorbild unseres Welterlebens.
Natürlich wissen wir, dass diese kalifornischen Pools ihr Wasser aus riesigen Entfernungen herbei pumpen, sie existieren tatsächlich auf Pump und entziehen es anderen Landstrichen. Hatte der Sommer des Impressionisten Manet eine schadhafte Stelle, so bekäme er hier bereits einen gehörigen Riss.
Dafür kann der Maler nichts. Vielleicht leben wir ja in einer Welt, in der das Gespräch über Bäume, wie Brecht meinte, gleichzeitig das Schweigen über so viele Verbrechen einschließt. Das ist etwas, was die Bilderstürmer zu allen Zeiten der Schönheit in der Kunst vorgeworfen haben. Aber selbst wenn es zuträfe, so steigerte es doch keinesfalls die Lebensfreude und es ist so, als müsse Musik möglichst schlecht klingen, um der Wahrheit zu genügen. Da beruhigt es mich zu hören, dass der Krankenstand bei Musikern in Orchestern für atonale Musik signifikant höher liegt als bei jenen, die sich der Harmonien bedienen. Schönheit ist also doch mehr als nur Dekor.
Der Sommer steht in der Tür und mit ihm das Sommerloch. Vielleicht spannen Sie sich eine Hängematte zwischen Bäumen auf. Als Lektüre empfehle ich Stifters „Bunte Steine“. Ein Buch angefüllt mit Jahreszeit. Käferpoesie, wie Hebbel es abschätzig nannte und mir damit eine eindeutige Empfehlung aussprach. Im Hintergrund ein wenig Gershwin, Summertime, mit Billie Holiday, am besten auf Vinyl, das leise Schaben und Knistern im Flimmern des Mittags und im Zirpen der Grashüpfer. Kaufen Sie sich ein buntes Hawaiihemd und hängen Sie sich quer über das Sommerloch. Chillen, wie man das heute nennt, und sollte es Ihnen am Abend noch nach Laternenfest und Halligalli sein, dann lesen sie doch einfach den Veranstaltungskalender des „Herzog“.