Ein Jahr, nachdem das Bistum Aachen Betroffene im Rahmen der Nennung von verstorbenen und mutmaßlichen Tätern aufgerufen hat, sich zu melden, ist es Zeit, neben dem großen Leid, das Betroffene durch kirchliche Amtsträger in zurückliegenden Jahrzehnten erleiden mussten, auch die Fakten der kontinuierlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Blick zu nehmen. „Ich erlebe die Betroffenen in den Gesprächen, die ich führe, sehr unterschiedlich. All diese Gespräche bestätigen mich darin, dass wir als Kirche die Betroffenenperspektive weiter hochhalten müssen“, betonte Bischof Dr. Helmut Dieser auf der Synodalversammlung im Bischöflichen Pius-Gymnasium.
Insgesamt hat das Bistum bis Ende Oktober nach eigenen Angaben 3,5 Millionen Euro an Anerkennungsleistungen an Betroffene gezahlt, deren Anträge von der Unabhängigen Kommission zur Anerkennung des Leids (UKA) auf Plausibilität geprüft wurden. Es gäbe keine Höchstgrenze für Zahlungen an Betroffene. Nach den öffentlichen Aufrufen hätten sich 65 Betroffene gemeldet. In der Folge sind 28 Anträge auf Anerkennung des Leids gestellt worden. Der Bischof führte auf Wunsch im Sinne der Seelsorge Gespräche mit Betroffenen. Sie könnten eine von ihnen selbst bestimmte Begleitperson mitbringen.
Das Bistum habe die vom Landgericht Aachen vorgeschlagenen Vergleichssummen im Fall von zwei Klagen angenommen. In einem Fall gab es gute Gründe, das Angebot abzulehnen. Jeder Fall werde von den Gremien individuell beraten. Vom Gericht wurde in einem Urteil betont: „Die Verjährungseinrede des beklagten Bistums verstößt nicht gegen Treu und Glauben.“ Das Gericht sei bezüglich einer längeren Verjährungsfrist – länger als 30 Jahre ab dem 21. Lebensjahr – zu der Erkenntnis gekommen, dass dies dem Kläger auch keine Vorteile brächte.
Das Bistum Aachen folgt Governance-Prinzipien. Das heißt: Der Bischof kann nicht allein entscheiden, sondern muss bei sogenannten Rechtsgeschäften über 100 000 Euro die Beispruchsgremien Vermögensrat und Konsultorenkollegium hinzuziehen. „Anders als bei unseren Leistungen aus dem UKA-Verfahren sind wir als Bistum in einem Klageverfahren Partei und müssen uns als solche verhalten. Als Bischof will ich mich auch weiterhin in jedem Einzelfall mit den Gremien – Vermögensrat und Konsultorenkollegium – beraten und bin gehalten, das Ergebnis zu berücksichtigen. Die Vergleichsvorschläge des Gerichts haben wir in zwei Fällen vorbehaltlos angenommen“, sagte Bischof Dr. Helmut Dieser.
Dr. Christof Wellens, Mitglied des Vermögensrates im Bistum Aachen, ergänzte: „30 Jahre nach dem 18. Geburtstag des Klägers ist es das gute Recht des beklagten Bistums, sich auf Verjährung zu berufen. Denn vor Gericht dient die Verjährungseinrede dazu, das Bistum vor nicht mehr aufklärbaren Forderungen zu schützen. Die Kläger sind in einem höheren Alter und hatten ausreichend Zeit, ihre Forderungen rechtzeitig geltend zu machen. Verjährung gilt schon seit der Römerzeit als Instrument des Rechtsfriedens und wird von allen Institutionen in Europa und Deutschland anerkannt. Auf einer anderen Ebene ist das Verfahren vor der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen der Bischofskonferenz zu sehen. Dort wurden und werden unabhängig von der Beweislage Anerkennungsleistungen in beträchtlicher Höhe zugesprochen. Vor Gericht gilt jedoch das staatliche Recht, auf das sich jeder, auch das Bistum, berufen kann.“ Und weiter: „Die Gremien hatten eine hohe Verantwortung und diese Verantwortung können wir auch gut vertreten. Wir sollten auch das Votum der Gremien ernst nehmen.“
Mit der Einrede auf Verjährung (Klageerwiderung) war das Angebot eines Mediationsverfahrens verbunden. Damit bestand aus Sicht des Bistums Aachen die Chance, den Betroffenen eine öffentliche Verhandlung zu ersparen. Über eine Einigung – Gericht und Kläger müssen dem Verfahren zustimmen – entscheidet dann ein unabhängiger Mediationsrichter. Dem hätten zunächst Gericht und auch die Kläger zustimmen müssen. Das Aachener Gericht konnte das Mediationsverfahren aufgrund Personalmangels nicht anbieten.
Das aktuelle Kirchenrecht sieht vor, dass der Bischof bei bedeutenden Rechtsgeschäften über 100.000 Euro die Beispruchsgremien Vermögensrat und Konsultorenkollegium anhören muss. Der Bischof benötigt für die Vornahme von Rechtsgeschäften nach c. 1295 die Zustimmung beider Gremien, nach c. 1277 die Anhörung beider Gremien.
Die Abwägung und Entscheidung über die Vorgehensweisen des Bischofs und des Bistums mit seinen gesetzlichen Vertretern erforderten deshalb in allen drei Fällen aufgrund einer Schadenssumme von jeweils über 100.000 Euro die Zustimmung beider Gremien.
Diese beiden Aufsichtsgremien hätten jede einzelne Klage in ihrer Besonderheit unter verschiedenen Gesichtspunkten gewürdigt. Jeder Fall sei anders. Und deshalb hätten die Gremien – jeweils beraten durch die Justitiarin und den Prozessbevollmächtigten des Bistums – unter besonderer Berücksichtigung des Zivilprozessrechts unabhängig voneinander, aber gleichlautend hinsichtlich der gewählten Vorgehensweise entschieden. Damit wurden in zwei Fällen die gerichtlichen Vergleichsvorschläge angenommen.
Bischof Helmut Dieser würdigte die Verantwortung beider Gremien und ist an diese Entscheidung gebunden. Dies sei nicht zu verwechseln mit einer Selbstbindung, zu der sich der Bischof im Rahmen synodaler Entscheidungen verpflichtet.
Beim Vermögensrat, der sich aus Mitgliedern des Kirchen- und Wirtschaftssteuerrates bildete, handelt es sich um ein demokratisch legitimiertes Gremium, das von Kirchenmitgliedern gewählt ist. Das Konsultorenkollegium besteht aus Mitgliedern des Domkapitels. Zum Stichtag 30. September 2024 sind dem Bistum Aachen 377 Betroffene namentlich bekannt. Damit ist die Zahl der namentlich bekannten Betroffenen gegenüber dem 2. Quartal 2024 um sieben gestiegen. Zurückzuführen sei der Anstieg auf die im Quartal eingegangenen Erstanträge auf Anerkennung des Leids.
179 Erstanträge auf Anerkennung des Leids wurden seit der Einrichtung des Verfahrens durch die Deutsche Bischofskonferenz im Jahr 2011 bis zum 30. September 2024 beim Bistum Aachen gestellt, teilt das Bistum mit. Davon seien bislang insgesamt 144 Anträge beschieden worden. Insgesamt 65 Betroffene hätten sich nach dem öffentlichen Aufruf an Betroffene vom 18. Oktober 2023 gemeldet. 28 davon hätten einen Antrag auf Anerkennung des Leids gestellt. Im dritten Quartal 2024 sindseien15 Erstanträge auf Anerkennung des Leids eingegangen und an die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen weitergeleitet worden.
148 Täter, mutmaßliche Täter und Beschuldigte sind dem Bistum namentlich bekannt. Darunter befinden sich 134 Kleriker (Pfarrer, Kapläne, Patres, Diakone) und eine Ordensschwester. 13 sind Nicht-Kleriker wie Erzieher, Hausmeister, Küster, Organisten, Religionslehrer oder ehrenamtlich Tätige. Bis Ende Oktober 2024 hat das Bistum Aachen Anerkennungsleistungen in Höhe von 3,5 Millionen Euro an Betroffene bezahlt. Höchstgrenzen für die Anerkennungsleistungen von Leid gibt es nicht.