Es war ein kühler Dienstagabend im Frühsommer. Ich saß auf dem Bahnsteig und wartete auf meinen Zug, bereit für eine spontane Reise. Ans Meer. Die Menschen um mich herum hasteten vorbei, während ich mich entspannt zurücklehnte und die Ruhe genoss. Neben mir in dieser Reihe von „Wartesesseln“ – diese Art von Möbel mit dem Charme von Hühnerkäfigen in einer Legebatterie – saß ein sympathisch wirkendes junges Paar. Wir kamen sogar kurz ins Gespräch über Belangloses, wohin man reist, das Wetter, den Dreck und die Essensreste auf den Gleisen und dem Bahnsteig. Die Mäuse, die daran knabberten. Die beiden sprangen plötzlich auf, weil wir endlich in der Ferne unseren Zug einfahren hörten. Sagten sie, glaubte ich. Wir standen auf und traten an die Bahnsteigkante. Es war ein Güterzug, der langsam ratternd und Schwelle für Schwelle ächzend durch den Bahnhof kroch. Ich schaute versunken den Waggons hinterher und malte mir in meinem Inneren aus, was da wohl alles transportiert wird. Vielleicht zwanzig Sekunden Bilder im Kopf. Doch die hatten gereicht. Pärchen weg – meine Reisetasche – die treue Begleiterin, die ich bis dahin fast wie einen Freund betrachtete – war verschwunden. Zum Glück hatte ich wie immer meinen Rucksack über der Schulter getragen; mit Notebook, Handy und meiner geliebten Leica. Ich dankte dem Himmel und beschämt mir selbst.
Der Diebstahl traf mich wie ein Schlag, und erst jetzt wurde mir klar, was ich alles verloren hatte: Kleidung, Bücher, Sonnenbrille, Malsachen und mehr. Das Paar hatte sich in wenigen Sekunden meiner Tasche bemächtigt, als wäre sie das letzte Stück Schokolade in einem Raum voller Kinder. Noch immer benommen von dem, was geschehen war, ging ich zur Bundespolizei, um Anzeige zu erstatten. Die Beamten waren freundlich, aber auch teilnahmslos – ich war vermutlich der vierzigste Mensch an diesem Tag, der seine Tasche verloren hatte. Tatsächlich sah ich auf einem Überwachungsvideo mich dem Zug hinterherschauend und die Diebe mit meiner Tasche in die andere Richtung rennend. Im nächsten Treppenabgang auf Nimmerwiedersehen wie in ein schwarzes Loch eintauchend.
Während ich mein Anliegen schilderte, verrann die Zeit, und mein Zug fuhr ohne mich ab. Auch der nächste, übernächste und letzte Zug des Tages. Ich saß in einer Umgebung von schwer gepanzerten und bewaffneten Menschen. Aus Steckbriefen schauten grimmig Verbrecher auf mich herab. Mörder, Trickbetrüger, Vergewaltiger – 50.000 oder 30.000 Euro Belohnung war auf sie ausgesetzt. Und ich sitze hier wegen einer Lappalie, füllte Formulare aus und wartete vergeblich auf ein Wunder. Die Hoffnung, meine Tasche zeitnah zurückzubekommen, hatte mir eine Polizistin schnell genommen.
Welche Optionen gab es für mich? Fast 700 Kilometer bis nach Hause – komplett fremde Stadt – Mietwagen zu spät und zu anstrengend, Fliegen zu spät, Hotel überteuert da Messe. Bahnhofsmission – so schlimm war es nun auch noch nicht. Ohne Tasche und Unterkunft blieb ich im Bahnhofsviertel, einem Ort, an dem man in der Regel nicht die Nacht verbringt; aber doch besser als auf irgendeiner einsamen Parkbank oder unter einer Brücke. Die Hotels waren überteuert, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich mal wieder in den „Reise-Überlebensmodus“ zu versetzen. Ich setzte mich also zu einer Gruppe Obdachloser, die mich herzlich aufnahmen und erzählte meine Story. Ich bekam viel Zuspruch und mutmachende Worte. „Ein Bier für alle!“, rief ich und erntete ein fröhliches „geil Mann“, das die Dunkelheit erhellte. Es gab auch Currywurst für alle dazu – man muss sich das Leben schön machen, wenn es einem schon mit vollen Händen Sand in die Augen streut.
Während wir zusammen aßen und tranken, erzählten mir meine neuen Freunde ihre Geschichten. Jede einzelne war ein „Anschlag“ des Lebens, der sie aus der Bahn geworfen hatte. Da waren Bernd, der seine Spedition durch eine Insolvenz verlor, Gisela, die nach einer Scheidung im Nichts landete, und der junge Marvin, der durch eine Firmenpleite nicht nur seinen Job, sondern auch seine Wohnung verlor. Heute finden sie Wärme miteinander und mit Alkohol oder manchmal auch Drogen.
Ich hörte zu und erkannte, dass diese Menschen ihre eigenen „Anschläge“ erlitten hatten. Ihre Verluste waren jedoch dauerhaft, und sie hatten gelernt, damit zu leben. Trotz allem hatten sie ihren Humor und Lebensmut nicht eingebüßt und empfingen mich, einen fremden Pechvogel für eine Nacht, mit mehr Herzlichkeit und Zuneigung, als es viele andere Menschen getan hätten.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden, es war noch dunkel, und mir war sehr kalt, kehrte ich zurück zur Polizeiwache. Zu meiner Überraschung hatten die Beamten einige Teile aus meiner Tasche gefunden. Sie hingen tropfnass und vom Regen durchweicht an einer Wäscheleine quer durchs Revier. Der Anblick war so skurril, dass ich trotz meiner Müdigkeit lachen musste. Meine Sachen waren größtenteils wieder da, aber irgendwie hatte ich einen Teil meiner Würde verloren. Die Polizisten erkannten meinen Zustand und boten mir sogar an, mich auf einer Pritsche im Pausenraum auszuruhen. Ein angemessener Schein in die Kaffeekasse erleichterte mein schlechtes Gewissen und wurde mit viel Widerstand angenommen.
Natürlich, die Diebe waren nicht zu fassen. Bis heute nicht. Aber als ich durch Kaffeeduft aufwachte, wusste ich, dass ich in dieser Nacht etwas Wertvolles gewonnen hatte. Das Leben ist voller Anschläge, und die eigentliche Kunst besteht darin, wie wir damit umgehen. Manchmal bedeutet das, eine Anzeige zu erstatten, manchmal, eine Currywurst und ein paar Bier mit Fremden zu teilen.
Vielleicht sollten wir alle ein wenig gelassener sein, wenn uns das Leben ein Bein stellt. Denn am Ende finden wir vielleicht sogar unsere Sachen auf einer Wäscheleine wieder – oder wir treffen Menschen, die uns zeigen, dass ein verlorener Zug nicht das Ende der Welt bedeutet, sondern der Anfang einer neuen Geschichte ist.