Start Stadtteile Jülich Einführung in die Ausstellung Jörg W. Schirmer: Perspektive? akrobatisch!

Einführung in die Ausstellung Jörg W. Schirmer: Perspektive? akrobatisch!

Die Laudatorin Stephanie Decker M.A. Kunstgeschichte; ist seit 2013 als Kunsthistorikerin tätig für das Museum Zitadelle Jülich; seit 2017 als freiberufliche Kunstwissenschaftlerin u.a. tätig für die Galerie an der Zitadelle; seit 2018 Promotionsstudentin der Universität Bonn, Arbeitstitel der Doktorarbeit: Akademische Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert: Die Schirmer-Schule. Folgen und Impulse

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Laudatorin Stephanie Decker. Foto: Dorothée Schenk
Laudatorin Stephanie Decker. Foto: Dorothée Schenk
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In unserer „Manege“ dürfen Sie sich heute Abend auf Akrobaten, Tänzer, Tanzgruppen und Artisten freuen. Das Wort Akrobat leitet sich von dem Griechischen „akrobatos“ ab und bedeutet „jemand der auf den Zehen geht“. Von einem Akrobaten verlangen wir Leistungen, die eine besondere Geschicklichkeit erfordern. Wir erwarten Überraschungen, die dem Akrobaten nur Dank Tricks und technischen Raffinessen möglich sind. Sein Werkzeug ist der menschliche Körper.

Die eigentlichen Akrobaten des heutigen Abends sind jedoch nicht die Figuren, sondern der Künstler selbst! Berühmt ist er für sein Kunststück eigentliche Gegensätzen zu verbinden – motivisch, materiell aber auch kompositorisch.

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Motivisch trafen Sie sofort am Eingang auf einen Gegensatz. Hier war es nicht die ausgestreckte Hand, sondern ein ausgestreckter Fuß, der sich Ihnen in den Weg stellte und Sie entschleunigen sollte. „Der Künstler mit den großen Füßen“ so nennt man auch Jörg W. Schirmer. Das Motiv sieht er als ein widersprüchliches. Einerseits verleihen Füße Stand und Halt, andererseits lassen sie einen aber auch voranschreiten. Bei vielen seiner Figuren sind die großen Füße allein statisch von Nöten. Außerdem lassen sie die Figuren größer erscheinen als sie eigentlich sind. Der Betrachter nimmt eine Art Untersicht „zu Füßen“ ein.

Schon als Schüler beschäftigte sich Schirmer mit extremen Perspektiven. Auch in seiner Bildhauerlehre und später an der Düsseldorfer Kunstakademie als Meisterschüler von Prof. Markus Lüpertz blieb das Thema präsent. Im Spiel mit Perspektiven und dem Verbinden von Gegensätzen reifte schließlich aus dem Schüler der Meister. Die Figur Akrobat ist ein Beweis dafür. Wer an den Füßen der Figur steht, wird die Täuschung nicht bemerken. Wer am Kopf der Figur steht, wird die Täuschung nicht erkennen, dafür jedoch Elemente, welche die Täuschung gelingen lassen. Erst an diesem Standort wird ersichtlich, dass die Figur größer erscheint als sie ist – dank perspektivischer Verzerrung. Die rechte Hand der Figur ist mindestens dreifach so große, wie die andere. Frontal betrachtet erscheinen sie jedoch gleich. Um Manfred Poisel zu zitieren: „Es gibt zu Recht viele Interpretationen zu einem Einzigen, nämlich deshalb, weil es aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden muss. Aus einem Blickwinkel allein vermögen wir das Ganze nicht zu erfassen.“ Mit der Frage nach der Perspektive geht auch immer wieder die Frage nach der Realität einher.

Materielle Gegensätze bestimmen die Bronzegussarbeiten. Matte, farbig gefasste Bereiche treffen auf hochglanzpolierte, in denen sich der Umraum spiegelt. Vielleicht hat der eine oder andere sich schon dabei erwischt, dass er im Bann der aufregenden Oberfläche die Figuren anfassen will – ein häufiges Phänomen bei den Arbeiten von Jörg W. Schirmer und in der Kombination ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal. Bei den Relief-Arbeiten findet sich das Naturmaterial Holz in Verbindung mit einem ungewöhnlichen, farbigen Schatten. Ein Blick auf die Rückseite bringt hier die Erkenntnis. Rückseitig sind die Reliefs mit Neon-Farben versehen, deren Reflexion sich wie ein Nimbus um die Arbeiten legt.

Kompositorisch befinden sich viele Figuren in der Schwebe, im Aufbruch zwischen zwei Handlungen in einem vergänglichen Moment. Die Figure „Flügge werden“ scheint kurz vorm Absprung zu sein. Hier wird das Erwachsenwerden und der Aufbruch thematisiert. In der „Menage a trois“ buhlen zwei Tänzer um eine Dame – doch schon im nächsten Moment droht die Stimmung zu Kippen und die Tanzbewegungen könnten zu Schlägen werden.

Als bekennender Humanist nimmt sich der Künstler auch unmittelbaren Themen der Medienwelt an. Die Figur Topmodel nimmt Bezug auf die umstrittene Castingshow von Heidi Klum. Die Figur „Possierlich“ im Schaufenster stellt eine Reaktion auf den Körperkult à la Kim Kardashian in den USA dar. Andere erinnern an klassische Motive. Die Figurengruppe „Menage a trois“ erinnert an Manets Frühstück im Grünen. „Der Nachdenkliche“ besitzt Parallelitäten zu Rodins berühmten Denker.

Einer der spannendsten Momente ist bei jeder Ausstellung der Aufbau – vor allem, wenn der Künstler selbst mithilft. In gespannter und konzentrierter Atmosphäre lernt man viel über die Beziehung des Künstlers zu seinen Objekten. Am Donnerstag fiel immer wieder das Wort Perspektive und die Forderung wurde kundgetan, dass der Besucher das Kunstwerk möglichst von allen Seiten sehen kann und sich auch im Gesamtkonzept im Raum verschiedene Sichtachsen ergeben, damit – und das ist keinesfalls selbstverständlich – jeder seine eigene Perspektive finden kann. Diese Einstellung zollt von großem Respekt vor dem Individuum und verleiht dem Betrachter die Freiheit sich selbst zu entfalten.

Die Arbeiten von Herrn Schirmer beeindrucken auf vielen Ebenen. Sein Handwerk beherrscht er meisterhaft. Er hat sich nie auf den Lorbeeren seines berühmten Vorfahrens ausgeruht und er besitzt das so bewundernswerte Durchhaltevermögen von der Idee zum fertigen Kunstwerk – auch wenn die Fertigstellung schon mal ein ganzes Jahr dauert.

Lieber Herr Schirmer, im Namen der Galerie möchte ich mich noch einmal bedanken, dass Sie im vergangenen Jahr so spontan die Ausstellung zugesagt haben. Bei Ihnen liebe Gäste möchte ich mich natürlich auch herzlich für die Aufmerksamkeit bedanken und kann Ihnen nur empfehlen das Gespräch mit dem Künstler zu suchen. Zu jeder Arbeit gibt es noch unendlich viel zu erzählen. Und nun lassen Sie sich verzaubern, unterhalten, irritieren. MANEGE FREI!

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