Friedrich Schlegel bringt bekanntlich um 1800 im 116. Athenäumfragment die „progressive Universalpoesie“ auf den Begriff: „Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen“. Novalis fordert im ‚Blütenstaub- Fragment‘: Die Poesie müsse ein „Bild des Zeitalters werden“. Schlegels Maxime, die Grenze der Gattungen zu überspielen, folgt auch die Österreich 2019 auf der Biennale in Venedig allein repräsentierende, 1971 in Brixlegg geborene und in New York lebende und lehrende Ulrike Müller.
Im ersten der vier neu arrangierten Räume der ehemaligen Schirmfabrik wird der Besucher von Miriam Schapiros monumentalem Fächer (‚Geometrie der Blumen‘, 1978) empfangen. Pattern and Decoration der Kategorie weiblicher Kunst zu Beginn also. Die zwischen blau und rosa changierenden, patchworkartig collagierten Musterstoffe rufen die einst hier produzierten stoffbespannten Metallgestelle weltweit vertriebener Parapluis in Erinnerung und weisen über den Selbstbezug einer sich emanzipierenden Kunst hinaus. Rücken an Rücken mit dem monumentalen Fächer bezaubert eine zarte Grafik von Laurie Anderson. In der politischen Phase der Annäherung der USA an Maos China unter Nixon dienten der Künstlerin die in Streifen geschnittenen Titelseiten der The New York Times und China Times als Material zu einem im Wechsel vertikal und horizontal verflochtenen Gewebe, dessen semantische Textur sich im Kontrast gegenläufiger kulturell bedingter Leserichtungen zu einem kontextuell nicht entschlüsselbaren, grafisch hingegen reizvollen neuen Muster konfiguriert (1979). Die Rasterstruktur des Zeitungsgeflechts findet ihr Echo in Alfred Jensens ‚Hekatomopedon Pattern‘ vom 10.05.1966. Das Seitenverhältnis des Quadrats in Zahlen ausdrückend, thematisiert das Raster die mathematische Reihe der Progression.
Ähnlich wird uns ein Zahlenverhältnis in Gerhard Richters ‚Permutationen 1-1024‘ (1973-74) wieder begegnen. Jasper Johns‘ unbetiteltes, monochrom weißes Format trägt am rechten Bildrand gleichwertig dreigeteilt die Grundfarben Rot, Gelb, Blau. Dem mittleren gelben Streifen ist, ein 12 cm messendes Lineal unterlegt. Sol LeWitt wiederum spielt die Möglichkeiten in der Anordnung gleichschenkliger Bögen und deren Teilformen systematisch durch und überführt sie in ein filigranes Lineament (1973), während der monumental in die Gattung Malerei erhobene, großformatig eierschalenfarbene Notizblock von Alex Hay (‚Steno Pad‘, 1966) gewissermaßen die Leerfläche für derlei grafische Exempel bereit hält und Rune Mields mittels paarig angeordneter Röhren in Formanalogie zum Fernglas das Instrument optischer Fokussierung zum Bildmotiv hat (‚Nr. 26‘, 1969). Zunächst jedoch führt die Ausstellungsfährte den Besucher hinters Licht. In einem dem Haupt- und Lichtturm-Raum vorgelagerten, abgedunkelten Karee vereinen Müller und Kuratorin Eva Birkenstock Schattenbilder. Seinerseits entlang der Raumdiagonale zweigeteilt, sind Robert Rauschenbergs & Susan Weils unbetitelte Cyanotypie (1949/50), Imi Knoebels, ‚Projektion X‘ (1972) sowie Klaus Paiers fünf Aachener Sgrafitti im Foto(1978, 1980) einander über Eck zugeteilt, während Belkis Ayons papierne Körperbilder samt Druckmatritze, Rauschenbergs ‚EarthDay‘ (1970) und Christopher Knowles USA- Karte (1979) direkte Wandnachbarn sind. Knowles’ Schreibmaschinenskript der ‚Space Needle‘ Seattles (1977) weist typografisch voraus auf Jenny Holzers fest im Lichtturm installierte Schriftlaufbänder aus Leuchtdioden (1991). Den Link zurück zu Alfred Jensens Quadratrapport hingegen markiert Imi Knoebel mit seinem schablonierten X bewegter Schwarzweißbilder. In diesem Dunkelraum werden die USA mit der ihr als „letzte Bastion des Sozialismus“ geografisch real und geopolitisch brisant vorgelagerten Insel Kuba durch Rauschenberg, Knowles und Ayon repräsentiert.
Großzügig über die Diagonalachse aufgeklappt, öffnen sich hier die Seitenkabinette zur Ausstellungshalle. Nairy Baghramians ‚Side Saddle Damenrad‘ (2009) fungiert dabei als Gelenk, über das sich die Diagonale bis hin zu Jonathan Borofskys ‚Ballerina Clown‘ (1991) im Museumsvorhof erstreckt. Zugleich deutet das mit dem Geschlecht spielende Werk ein Korrekturbedürfnis gegenüber einem männlich dominierten Kunstkanon an, ein Programm, dem sich Eva Birkenstock als Direktorin des Ludwig Forums konsequent verschrieben hat. In einer Parallelbewegung lediglich gestreift, bleiben Gabriel Kuris ‚Dinge, die auf Dinge warten‘ (2008) links liegen. War der erste Raum rechts des Zugangs zum Auftakt mit ‚Switch‘ (1964/65) regelrecht erst eröffnet worden, schaltet im Rückbezug der Stromfluss nun den lichthellen, die Architektur in ihrer gesamten Höhe durchmessenden Turmraum für die Betrachtung symbolisch erst ein. In einer großformatigen, vierteiligen Collagrafie beschwört Ayon einen Liebhaber, dass dieser sie für immer lieben möge (1991). Ein zweites Werk, ohne Titel: Ein Mann hält die Prinzessin Sikan, eine Figur des synkretischen, afrikanisch-kubanischen Kultes der Abaqua, in Händen (1993). Ihr gegenüber fliegen ein Mann und ein Junge sich liebend auf einem Fahrrad davon (Paier, 1979). Knowles naive, alternierend in Rot, Grün und Schwarz gezeichnete Karte der Vereinigten Staaten nennt Städtenamen von Gewicht und weniger große Menschenflecken, die ihrerseits mit Linien verbunden sind wie sie Flugverbindungen bezeichnen.
Eine Wandlung ins Textile erfahren Müllers teils bereits aus den acht drucktechnisch höchst versierten, feingliedrigen Farbschichtbildern (Monotypien 2019-21) bekannte Tiermotive auf den Polstern der Wandbank im Souterrain des Lichtturm-Raumes, um im dritten und letzten Raum der Ausstellung ihre wollenen Wandbehänge zu bevölkern. Zwei großformatige Teppiche sind hier mit kleineren Papierarbeiten vereint. Deren kräftige Farbigkeit geht einher mit farblicher Dichte. Katze, Hund und Maus sind nicht aus Pappe sondern von gewebter Stärke. Nach Form und Farbe korrespondieren sie munter mit den dreidimensionalen Gesichtern ihrer lackierten Verwandten (Jesdinsky, Serie Baukasten, 1989), die ihrerseits mit der Backsteinarchitektur des äußeren Museumsbaus interagieren (Josef Bachmann, 1928). Derweil lugt Graves ‚Mongolisches Trampeltier‘ (1969) zur Tür herein und nimmt so die animalische Fährte auf. Allein der allgemeinen Erstarrung ihrer jeweiligen Bewegungen halber wider den Stachel zu löcken, hätte Lygia Clark ihre geheime Freude gehabt, sollten doch deren durch Scharniere verbundenen Dreiecke aus Aluminiumblech (1963) der ursprünglichen Idee nach vom Betrachter eigenmächtig bewegt und in ihrer Konstellation fortlaufend verändert werden, um somit eine museale Stillstellung zu konterkarieren. Bewegung suggerieren Graves Trampeltiere auch in evolutionsgeschichtlicher Hinsicht. Das Kunstgeschehen der Kabinette erscheint für sie zumindest nebensächlich, haben sie doch noch einiges an Strecke zurück zu legen, bis sie irgendwann Kuris wartende Dinge erreicht haben mögen. Ihre Wegmarke ruft zugleich den Produktionsablauf auf, den hier einst die Regenschirmfertigung einnahm.
Knowles flächige Kartierung seiner USA-Map im vorangegangenen Ausstellungsraum, entspricht im nahezu allein von Müller bespielten zentralen Lichtturm-Raum das Modell des Museumsgebäudes. Inmitten des „Lichtturmes“ ausgestellt, gibt es die in ein Haus der Kunst umgewandelte Schirmfabrik wieder. Die Verschiebung der Größenverhältnisse setzt hier ein Spiel um Gefühle preziöser Miniaturhaftigkeit und von Erhabenheit in Gang. Zwei die gesamte Bauhöhe durchmessende Malereien an den Seitenwänden korrespondieren mit Jenny Holzers unauflöslich dem Vertikalraum anheim gegebenen Schriftbändern in elektronischer Laufschrift (1991). Müllers `Papierkörper’ (Gespenst, 2023 [Abb.]) auf der einen, ist ein zweiter (Zeiger, 2023) auf der Wand gegenüber gestellt. Ersterer, ausgeführt mit einem Schwamm, wirkt haptisch mitunter wie hingetupft, während der zuvorderst mit orangenem Dreieck zur Fensterfront weisende Zeiger im Farbbild flächig geschlossen erscheint. Die sechs gerahmten Chine collé-Monotypien auf der Wand des Zeigers (‚Instrumentarium‘, 2021) lassen eine enge Verbindung zu Miro und Kandinsky erkennen. Die Schildmauer des doppelseitigen Treppenabgangs zu Lichtturm und Grafikkabinett des White-Cube ist mit emaillierten Schmuckanhängern bestückt (‚Miniatures‘, 2014). In der Optik des Müllerschen Papierkörpers betrachtet, verwandelt sich das spiegelsymmetrische Wandformat in ein Dekolletée. Anders das Grafikkabinett. Auf Brusthöhe tapeziert, geraten die in ihren Motiven systematisch durchgespielten, gesammelten Vektorzeichnungen aus 15 Jahren Schaffenszeit in Elementarformen zum Wandfries, nur gelegentlich unterbrochen durch in Emaille ausgeführte Einzelmotive. So changieren Wandschmuck, Bildergalerie und Gemäldewand zwischen künstlerischer Autonomie und eher schmückender Bekleidungsfunktion.
Pattern and Decoration – nicht der Natur beschreibende, sie wissenschaftlich-poetisch ausdeutende Ansatz Nancy Graves‘ – und eine das Formvokabular der klassischen Moderne handwerklich- technisch differenziert fortführender Impuls sind für Müller maßgebend. Auch die Appropriation Art steht ihr nicht fern. Am meisten überzeugt Müllers Stringenz im spielerischen Durcharbeiten von Linie und Form. Punkt und Linie zu Fläche lautete Kandinskys Devise. Mit ihrer die Nachbarschaft sensibel erkundenden, Form gebenden, bildnerischen Kraft, weben Künstlerin und Kuratorin ein beziehungsreiches Netz zu Sammlung, eigenen Werken und die sie umgebende Architektur, ein Knüpfteppich von mannigfaltigem Muster.
Harald Szeemann hat 1983 im Düsseldorfer Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in der einschlägigen Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ Schlegels Begriff neu betrachtet und in seinen Folgen für die letzten 200 Jahre beleuchtet. Just an diesem Ort begann auch Birkenstock ihren Werdegang. Die blutjunge Düsseldorferin dürfte von der gleichnamigen Schau nicht unberührt geblieben sein. In Aachen angekommen aber steht allein zu fragen: Wo bitte bleibt das Progressive?
Die Ausstellung im Ludwig Forum Aachen „Ulrike Müller, Monument to My Paper Body“ ist bis 9. Juni zu sehen.