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Von Jecken und Narren

eine Reise durchs Bücherregal

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Jecke und Narren | @Herzog 2017
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An Jecken, Narren und Toren besteht zur Zeit kein Mangel. Die Jecken und Narren kennt man aus dem Karneval, die nicht organsierten
karneval feiernden Menschen. Sie machen es nur an Karneval. Aber es gibt auch Narren, die auch außerhalb der 5. Jahreszeit aktiv sind. Es gibt den Clown, der andere zum Lachen bringt; den Spaßmacher, der nur unterhalten will; die Vielen, die sich zu Narren machen lassen. Es gibt den Narren, den man für töricht hält, weil er die Narrheit seiner Umwelt demaskiert und den Menschen einen Spiegel präsentiert. Es gibt den Bekloppten, den man als Narren beschimpft, weil er Gedanken denkt, zu denen seine Zeitgenossen vielleicht nicht fähig sind. Zeit für eine närrisch-literarische Zeitreise.
Die ersten Narren findet man in der Bibel: Psalm 52:  „Der Narr sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“ Der Narr galt als „Gottesleugner“, er stand dem Teufel nahe, dem Ursprung aller Narrheit. Der Narr verkörperte das sittlich Böse wie das logisch Unsinnige und ist der Widersacher des Weisen.
Der Narr war also keineswegs eine Figur, die nur Späße machte, sondern eine negative Gestalt.Erasmus von Rotterdam (1466-1536) stellt diese Sichtweise in seinem „Lob der Torheit“ auf den Kopf. „Ihr werdet keinen Toren sich unsinniger verhalten sehen, als den, der ganz von der Glut christlicher Frömmigkeit ergriffen ist. Sein Vermögen schenkt er freigiebig weg … Diese Art von Torheit steht über jeder eingebildeten Weisheit.“Aus dem tölpelhaften, törichten Narren wird mehr und mehr ein Narr, der – im Unterschied zu den „Klugen“ – zu Einsichten fähig ist.
Ein Narr wie Don Quijote, der ausreitet, um „seine Welt zu finden“, seine Dulzinea zu finden und Windmühlen für Riesen hält. Natürlich kann man sagen, Don Quixote sei etwas wirr im Kopf. Natürlich könnte man ihn einsperren und mit Medikamenten behandeln. Aber warum sollte man nicht auch behaupten können, dieser Narr begebe sich auf die Suche nach einer besseren Welt, die vorerst nur in seinem Kopf existiert?
Die Menschheit kam seit der Antike nie ohne Satire aus, denn es gab zu allen Zeiten an der Zeit und an den Zeitgenossen etwas auszusetzen. Lukian von Samosata, der „Satiriker der Antike“, spottete über den religiösen Wahn, die Eitelkeit der Philosophen, Literaten und Rhetoren und über die Leichtgläubigkeit des Volkes. Sebastian Brant (1497-1521) fährt in seinem „Narrenschiff“ mit 109 Narren, unter denen alle Typen von Torheit und Laster vertreten sind, gen Narragonien. Da möchte ich auch hin oder sind wir längst da?
Shakespeare kreiert einen neuen Typ von Narr. Er ist hintergründig, witzig und allen überlegen. Er erscheint mal „als vornehmer Herr, zuweilen als Rechtsgelehrter, zuweilen als ein Philosoph, zuweilen gleicht er auch einem Ritter; und kurz und gut, in allen Gestalten, worin die Menschen von achtzig bis zu dreizehn Jahren umherwandeln.“
Bis zur Aufklärung verurteilte die Gesellschaft den Narren, dann begannen die Narren die Gesellschaft zu verurteilen. Aber die Bestimmung des Narren wurde schwieriger. Der Skeptiker, Bloßsteller oder Lästerer darf, weil er die so genannten Ordnungen durcheinander bringt und die geforderte Loyalität bedroht, sich nicht als der Wissende oder Klügere über die Gesellschaft erheben. Er kann nur als Narr überleben.
In den modernen Gesellschaften kommen die Narren nicht mehr nur vereinzelt vor, als Außenseiter, die sich von den „normalen“ Bürgern unterscheiden. Es hat den Anschein, dass es nur noch Anormale gibt, ja die ganze Gesellschaft närrisch ist.
Heinrich Heine, der Spötter und Satiriker alles Engen und Nationalen erklärt das deutsche Volk zu einem „großen Narren“.

Jecke und Narren | © Herzog

Aus diesem Grund ist die Narrengestalt in eine neue, absurde Situation geraten: Sie muss sich nicht mehr nur gegen die Vernünftigen behaupten, sondern gegen ein Heer von Narren. Heinrich Bölls närrische Romanfigur, der Clown, fordert mit seinem Anderssein, seiner herausfordernden Unangepasstheit und seinem Rühren an der Vergangenheit seine Umwelt heraus und stört damit das selbstzufriedene Erfolgsbild der Nachkriegsgesellschaft. Radikaler ist Dürrenmatt, in seinen Stücken treten immer wieder Narren auf, auch wenn sie nicht so heißen. Sie verkörpern als Einzige das Gute in einer katastrophal bösen Welt.
In dieser Welt wird man, wenn man sich nicht verhält, wie man sich verhält, nicht denkt, wie man eben denkt, schnell als rückständig und unvernünftig abgestempelt. In unserer Informationsgesellschaft nehmen sich mehr und mehr die Medien das Recht, über das, was Narrheit ist, als oberste Instanz zu richten und den Rest erledigt dann die Psychiatrie.
Die modernen Gesellschaften mit ihrem Überfluss an Intellektuellen und Gebildeten scheinen der Überzeugung zu sein, sie seien mit ihrem Heer von Staatssekretären, Wirtschaftsweisen, Sachverständigen, Bildungsexperten und diplomierten Ratgebern gegen Torheiten ausreichend gefeit. Sie sollten den Narren nicht als überholt ansehen und ihm gestatten, dass er dem durch Konsum betäubten Wohlstandsbürger den Spiegel vorhält, das Unsinnige und Lächerliche bloßstellt und an den etablierten Systemen und an der gesteuerten Normalität rüttelt. Und das Rütteln am organisierten Karneval wäre doch mal ein gelungener Auftakt.
In einer verrückten Welt ist es der Narr, der die Wahrheit sagt. Sie manchmal förmlich herausschreit. Und zwar denen in die Ohren, die sie am wenigsten hören wollen. Das ist der tiefe Sinn des Narren, und die meisten Auftritte im Karneval, die man so erlebt, sind nur ein billiger Abklatsch. Die Wahrheit des Narren ist unangenehm…

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