Horst Grothe ist Pfarrer, sein Arbeitsplatz ist ein Wartezimmer. So umschreibt er die Arbeit als Seelsorger in der Untersuchungshaft der JVA Aachen. Er trifft auf Menschen, die als unschuldig gelten, aber unter dringendem Tatverdacht stehen und inhaftiert wurden. Horst Grothe nimmt jeden Tag Platz in diesem Wartezimmer – ohne zu wissen, wer neben ihm sitzen wird. Vielleicht ein mutmaßlicher Kapitalverbrecher, oder jemand, der seine Parkschulden nicht bezahlt hat. Horst Grothe ist es nicht egal, aber er möchte es trotzdem nicht wissen. Als Seelsorger hätte er Akteneinsicht, doch ihn interessiert etwas ganz anderes: Welches Anliegen hat dieser Mensch – und wie kann ich ihm behilflich sein? „Ich habe es nicht mit Inhaftierten zu tun, sondern mit künftigen Nachbarn“, sagt er. Oder mit Ehemaligen.
Der Strafvollzug gehört zu einer Gesellschaft hinzu. Nur wenn der Staat sein Recht auf Strafvollzug durchsetzt, werden Regeln beachtet, gibt es einen Konsens zu den Spielregeln des Zusammenlebens. Doch so selbstverständlich der „Knast“ ist, desto unzugänglicher erscheint er, fast ein wenig exotisch, auf jeden Fall entrückt. Teil unseres Lebens ist er nur äußerst selten. Das System gibt eine feste Struktur vor, macht Vorgaben, welche Wege möglich sind. Es gibt auf den ersten Blick kaum noch eigene Entscheidungsfreiheiten. „Seelsorger stehen im sympathischen Ruf, einfühlsam zu sein. Ich kann mich nicht einfühlen, den ganzen Tag drauf angewiesen zu sein, dass jemand von außen kommt, um eine Tür zu öffnen“, räumt Horst Grothe ein. Seit anderthalb Jahren ist der 55-Jährige Seelsorger in der JVA. Er sucht weiterhin jeden Tag eine Möglichkeit, auf der sprachlichen, menschlichen und emotionalen Ebene trotz verschlossener Türen einen Zugang zu erhalten.
„Die erste Zeit war ich Gemeindepfarrer im Gefängnis. Das hat nicht funktioniert“, blickt Grothe zurück. Es gibt keine eigene Kirche, kein Gemeindehaus mit all den damit verbundenen Freiheiten, auch das Büro wird von anderen Menschen mitbenutzt. Er muss seine Rolle nach wie vor noch finden, sich auf die neuen Aufgaben und Rahmenbedingungen einstellen. „Seelsorger sind wichtig im Strafvollzug“, ist der Jülicher überzeugt. Er und die weiteren Seelsorger arbeiten im Team mit anderen Berufsgruppen – Juristen, Justizvollzugsbeamten, Sozialarbeitern, Verwaltungsangestellten, Psychologen und Ärzten. Jede Berufsgruppe habe ihre eigenen Qualitäten und Aufgaben. „Als Seelsorger sind wir zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung, damit das uns entgegengebrachte Vertrauen auch gerechtfertigt ist, aber es gibt den Inhaftierten auch die Freiheit, offen vor mir zu reden, wenn sie es möchten.“ Die Seelsorge ist sozusagen ein Raum von Freiheit in einem hermetisch abgeriegelten Umfeld.
„Was mich motiviert, ist die Suche nach besonderen Momenten“, erklärt der 55-Jährige. Ist eine Kirchengemeinde eher ein Raum der Bejahung, sei der Strafvollzug zunächst ein Raum der Verneinung, Enge und Zwangsbestimmung. „Keiner wäre da, wenn er nicht da sein müsste“, sagt Grothe mit Blick auf seine Gesprächspartner. Und doch gibt es diese besonderen Momente, in denen man miteinander lacht, aufatmet, Humor aufblitzt – und ein Seelsorger einen Impuls geben kann, der Türen öffnet. „Jeder Mensch trägt Verantwortung für sich und sein Handeln, das ist die Würde eines Menschen“, erklärt Horst Grothe. Es freut ihn, wenn Menschen wieder zurück zu ihrer Würde finden, sich innerlich bereit machen, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und die Zeit im System nicht aus- oder absitzen, sondern diese nutzen, die Weichen zu stellen, etwas Neues zu lernen, an sich zu arbeiten. „Das, was im Strafvollzug passiert, hat Einfluss darauf, wie es in Zukunft weitergeht“, sagt Horst Grothe.
Wer mit einem Seelsorger sprechen möchte, füllt morgen bei der Frühstücksausgabe einen Zettel aus. „Oft sind die Anlässe gar nicht religiös, sondern der Wunsch nach kleinen Hilfen im Alltag“, sagt Grothe. Wer im Gefängnis sitzt, spüre aber auch oft massive Hilflosigkeit, beispielsweise bei der Erkrankung eines Familienangehörigen, bei der Trennung von der eigenen Familie, wenn plötzlich über einen Anwalt die Scheidungspapiere zugestellt werden. Je nachdem ist manchmal auch Protest angesagt – und Wut. „Wir haben nicht nur mit bösen Menschen zu tun“, betont der Seelsorger. „Teilweise sind es auch Menschen, denen unrecht getan wurde, die instrumentalisiert wurden, die den Kopf für andere herhalten, die sich haben ausnutzen lassen.“ Kommt es zu regelmäßigen Gesprächen, bleiben die Ansprechpartner aus dem Seelsorge-Team wenn möglich die gleichen, damit eine Vertrauensbasis entsteht.
Die Entscheidung, Gefängnisseelsorger zu werden, hat der Geistliche in einer Phase von Lebensumbrüchen getroffen: „Ich habe mich nach der Relevanz meiner Arbeit in der heutigen Zeit und in unserer Gesellschaft gefragt. Seelsorger bist du immer nur ganz persönlich, man kann sich nur als der Mensch einbringen, der man ist.“ Bereits zur Studienzeit hat Horst Grote im Strafvollzug gearbeitet später auch berufsbegleitend. „Es hat mich wieder in den Strafvollzug gezogen. Das ist ein Bereich, wo ich als Mensch ein Begleiter für andere Menschen sein kann.“ Privat hat er angefangen wieder ein Instrument zu lernen, die Zeit mit seinen Kindern und seiner Partnerin zu genießen. „Telefone sind auf der Arbeit verboten. Es kommt auch niemand aus seiner Zelle und besucht mich zuhause“, sagt er. Wenn sich abends hinter ihm die Türen schließen, ist Feierabend. Am nächsten Tag sitzt er morgens wieder im Wartezimmer. Ohne immer genau zu wissen, wer sich zu ihm setzen wird.