Der jüngste Grabungsfund in der Nähe des Jülicher Markplatzes ist äußerst spektakulär: eine uralte graue, fast glatte Mörtelplatte erzählt eine mehr als 1700 Jahre alte Geschichte. Das ist so alt, dass das kaum richtig vorstellbar ist: Nichts Geringeres als das entscheidende Stück Infrastruktur für die „Geburtsstunde“ der Stadt Jülich konnte unerwartet freigelegt werden: „So gut erhalten habe ich das noch nie gesehen“, schwärmt Marcell Perse, Leiter des Jülicher Museums Zitadelle aufgeregt und zeichnet in wenigen Strichen auf, was damals seinen Ursprung nahm: Die freigelegte Mauer ist nichts Geringeres als ein Teil der spätantiken Kastell-Mauer um Jülich, eine römische Befestigungsanlage, aber mit rein ziviler Nutzung, die 1000 Jahre lang die alte Stadtmauer von Jülich war. Von dieser wussten eingeweihte Geschichtskenner zwar bereits. Teile waren Ende der 80er Jahre ebenfalls bei den Marktplatzarbeiten gefunden worden. Aber nie war bekannt, wie die Ausrichtung dieses Kastells genau war und wie breit die Mauer. Ein phänomenaler und unerwarteter Fund also, der da an der Stiftsherrenstraße zutage kam, wo bald die neue Treppenanlage entstehen wird.
Die Mauer ist genau 4,30 Meter breit und enorm gut erhalten. Es sind in Mörtel gegossene Steine und extrem dicht. Außen ist sie begrenzt durch Kantsteine, innen zeichnen entlang wachsende Baumwurzeln ihre Grenzen auf. Als Perse beginnt, die Geschichte der Mauer zu erzählen, entstehen vor dem inneren Auge Bilder von römischen Herren, die in ihrer Trutzburg – nämlich diesem alten Kastell – sicher vor Angriffen der feindlichen Außenwelt waren. Schutz einer Siedlung in der Nähe der Rur, das war die ursprüngliche Funktion des Kastells, als es wohl im späten dritten Jahrhundert erbaut worden war. In Aachen habe es einen ähnlichen Fund gegeben, so Perse, woraus diese Datierung abgeleitet werden könne. Erst viel später, nämlich im 14. Jahrhundert, sei diese Kastellmauer dann funktionslos geworden und durch die Außenmauer mit dem integrierten Hexenturm ersetzt worden, sie war aber stehen geblieben.
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Das besonders Spannende sei, dass auch ihre Ausrichtung und ihr Verlauf klar erkennbar sind: Dieser bestätigt Perses eigene Theorie, warum die Probsteikirche nicht wie andere Kirchen nach Osten ausgerichtet sei, wegen der Auferstehungsgeschichte. Die erste Kirche habe sich damals einfach am Verlauf der Mauer orientiert und sei daran gebaut worden. Ursprünglich muss dies ein normales Haus gewesen sein, welches zu einer Kirche umgewidmet worden sei, weiß Perse. Das alles sei zwar „augenscheinlich“, aber immer noch ein Stück Kombination, weiß der Archäologe mit Schwerpunkt Vor- und Frühgeschichte.
Das ihn die freigelegte Epoche besonders fasziniert, merkt man an der Geschichte, die folgt: Entlang der „Via Belgica“, also der alten Römerstraße an der Jülich entstand, habe in die gerade Straßen-Route damals hier ein Schlenker gebaut werden müssen, um die damals noch reißende und wilde Rur an sicherere Stelle über eine Brücke überqueren zu können. An diesen Halbkreis, der später wieder zurück zur geraden Route führt, hätten sich viele Häuser angesiedelt. Vor der Brücke habe sich diese Siedlung angeboten, so Perse – die Geburtsstunde von Jülich. Um sich vor Angriffen zu schützen sei etwa 300 Jahre später das Kastell in Form eines Polygon darum gebaut worden. Dadurch habe sich eine geschützte Gesellschaft entwickeln können. „Die Leute im Kastell hatten gute Karten“, so Perse. Auch wenn sie dadurch eher Ziel von Angriffen waren.
Im 5. Jahrhundert seien die Römer hier die Ordnungsmacht gewesen, später dann unklare Machtverhältnisse entstanden. Die Machthaber hatten irgendwann mit den ehemaligen Feinden eine Zusammenarbeit begründet. So sei eine römisch-germanische Mischgesellschaft entstanden, die gut funktioniert habe, so Perse. Das ursprüngliche Jülich sei ein bewahrender Ort für die römische Tradition gewesen. Die sichere Kastell-Mauer habe urbanes Leben gesichert, mit all seinen spezialisierten Handwerkern und Schriftgelehrten. Jülich sei immer noch ein zentraler Ort, erinnert er die Bürger an diese bewegte aber auch privilegierte Entstehungs-Geschichte. Auch in dunklen Zeiten habe hier noch Handel stattfinden können – allein durch die Mauer.
Irgendwann sei auf dem jüngst freigelegten Mauerstück als Fundament pragmatisch ein Haus gebaut worden. Das innere der Kastell-Mauer sei ein ganzes Stück höher gelegen, als der äußere Bereich, da ja viele „Kulturschichten“ darauf entstanden seien. Das erklärt auch die heutigen Niveau-Unterschiede hinter der Probsteikirche. Das darauf gebaute Haus ist im zweiten Weltkrieg durch Bomben verschwunden, wie der Herzog berichtete. Auch die jetzt freigelegte Kastell-Mauer wird irgendwann unter der neuen Treppe verschwinden. Auch für die neue Treppenanlage dient die Kastell-Mauer also als sicheres Fundament. Doch vorher dokumentieren Experten alles sauber für die spätere Aufbereitung, unter anderem im Museum.
Am Samstag um 14 Uhr wartet auf interessierte Jülicher noch ein besonderer Leckerbissen: Eine dialogische Führung von Museumsleiter Perse mit einem als Römer verkleideten Christoph Ludwicki. Beide zusammen lassen dann die Römerzeit wieder für einen Moment aufleben.