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Geduld ist, wenn man trotzdem Lacht

Der verchromte Knopf des Handschuhfachs, eingerahmt von einem solchen Ring, erinnert an einen Klingelknopf. Bei einem Druck darauf springt die Blechklappe auf und federt nach 90 Grad satt im Scharnier noch einige Sekunden nach. Man musste schnell genug sein und die Hand wegziehen, ansonsten war das Federspiel unterbrochen.

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Warten auf die Streuengel | Foto: cristovao31 - stock.adobe.com
Warten auf die Streuengel | Foto: cristovao31 - stock.adobe.com
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Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Knopf gedrückt und damit den Vorgang ausgelöst und beobachtet habe. Mit meinen vielleicht fünf Jahren saß, nein ich stand mehr im Fußraum auf der Beifahrerseite des für die Anfang der 60er Jahre typisch mausgrauen Gefährts und wartete. Vorne nur im Stehen – beim Fahren hinten aus der Bretzel schauend. Wartete auf Vater oder Mutter, die Erledigungen machten. Anfang der 60er Jahre gab es für Jungs im Vorschulalter noch nicht so richtig viel Zeitvertreib beim Warten im Auto. Das Befahren des Autoinnenraums mit dem neuesten Matchbox-Auto inklusive Imitation des Motorgeräusches war tatsächlich noch die interessanteste Variante der Ablenkung. Und das Federn. Beschwerte ich mich nach einer mir unendlich erscheinenden Zeitspanne beim Elternteil, hörte ich oft „Geduld ist, wenn man trotzdem lacht!“ und freute mich riesig, wenn der Zündschlüssel gedreht wurde und wir die nächste Station unserer Tour oder unser zu Hause ansteuerten. Das sind meine ersten Erinnerungen an das alltägliche Warten.

Dann gab es aber auch noch das Warten auf Besonderes, Ereignisse auf die wir hinfieberten. Die ganze Familie in positiver Aufruhr. Natürlich der Heiligabend. Das Wohnzimmer in der kleinen Mansarde in der Kölnstraße, das uns Kindern am 24.12. morgens gesperrt blieb. Der Türrahmen von außen per Heftzwecken mit einem Leinenbettuch verhängt. Ein Theater mit Premierenabo. Vater oder Mutter huschten geheimnisvoll hindurch und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, einen Blick zu erhaschen. Erfolglos, trotzdem in freudiger Spannung gut gelaunt wartend. Was gab es dieses Jahr geschenkt? Wurde der Wunschzettel erfüllt? Am späten Nachmittag öffnete sich dann die Türe und ein Raum, beleuchtet von warmem Kerzenlicht, und empfing unsere Neugier.

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Außergewöhnlich war auch immer das Warten auf Besuche der Verwandtschaft aus Nah und Fern. Die schräge Tante aus Köln, die rauchend auf dem Sofa saß und Kognak trank. Immer eine Tafel Schokolade für uns dabei oder sogar Eiskonfekt! Der Besuch des Onkels aus Amerika, der mit seinem Akzent mit behafteten Deutsch fremd und dann doch sehr vertraut wirkte. Das Warten auf ihn war sehr besonders und je näher der Tag der Ankunft kam, um so aufregender wurde es. Endlich los zum Abholen nach Köln, letzte Minuten des Ausharrens und dann das Wiedersehen, oft unter Freudentränen der Erwachsenen, miterleben dürfen. Damals, noch nicht bewusst, wieviel Zeit meines reisefreudigen Lebens ich noch von A bis nach B aufwenden werde oder in C oder D mit Warten verbrachte.

Stockholm Flughafen Arlanda, Freitag 19 Uhr 30, Winter, Anfang der Neunziger. Warten auf den Rückflug. Der Termin war erfolgreich. Die Wette war verloren, konnte den Geschäftspartnern gestern bei der Ankunft die versprochenen sechs Flaschen Champagner überreichen. Mit breitem innerlichen Grinsen und äußerlich zerknirscht die Wettschuld beglichen. Die skandinavischen Kollegen ließen im gemeinsamen Projekt drei Monate warten. Dafür die bewußte Wette beim letzten Mal, sie würden das nicht wieder aufholen, den fest vereinbarten Liefertermin verpassen. Sie hielten ihn dann doch und das waren die sechs Flaschen wert. Inklusive das unsichere Warten am Zoll, denn am Tag vorher mit den sechs Pullen erwischt. No Risk – No Fun. Die Skandinavier zum Dinner sehr gastfreundlich. Im letzten Licht des Tages, es war gerade kurz vor 15 Uhr, entlang der Schären Stop an einem fürstlich aussehenden Gebäude. In traumhafter Lage in einer wunderschönen Bucht. Das Haus ein berühmtes Ausflugslokal mit ganzjährigem schwedischen Weihnachtsbuffet. Hering in nie wieder erlebten Variationen: süß, sauer, süß-sauer, in Essig, Öl, Essig-Öl, jeglicher Gewürzvariante, warm, kalt. Die Vielfalt an Lachs, angerichtet wie für einen Marktstand, war überwältigend. Brotvarianten von Knäcke bis schwarz. Dann das traditionelle Getränk: Vodka aus der Karaffe – nicht im Pinnchen wie bei uns, sondern per Wasserglas….. Am frühen Abend mit Bettschwere zurück ins Hotel.

Noch immer Warten auf den Rückflug und das sah nicht gut aus. Minus 18 Grad, zappenduster, Schneegestöber und Verwehungen schon auf dem Weg zum Airport. Ole, schwedischer Kollege, meinte noch ganz überzeugt, die SAS fliegt immer. Abflug war für 18 Uhr geplant, um 17:45 die Durchsage: der Flieger sei noch nicht gestartet in Deutschland, technische Probleme. Um 20 Uhr: der Flieger sei jetzt zum Start Richtung Stockholm bereit, man prüfe noch die Wetterlage und würde dann wieder informieren. Um 21:30 Uhr Gewissheit, der Flug gestrichen. Shit happens – No Fun with Risk. Ab ins nächste Hotel, vorher noch den Flug für den nächsten Morgen klar gemacht. Köln wird leider nicht angeflogen, es muss nach Düsseldorf ausgewichen werden und dann gibt es einen Taxi-Transfer nach Köln – da steht ja das Auto. Abflug 06:10 Uhr. Problemloser Flug, problemloses Taxi. Zu Hause sitzen in der Küche Mitbewohner mit zwei Ladies und feiern die vergangene Nacht. Nervig besoffen mit albernem Mitleid. Warten, ob die Mädels weich werden. Schnell Tasche neu packen und ab zum Meeting nach Fulda. Die Kollegen sind schon seit gestern dort, hinterherfahren. Wartezeit aufholen. Nach knapp zwei Stunden Fahrt plötzlich Schneegestöber. Es ist Vormittag, die Hand nicht mehr vor Augen zu sehen. Schwedische Verhältnisse – Déjà Vu. An einer Steigung auf der Gegenseite stehen drei LKW quer. Der krüppelige Ford Granada mit Heckantrieb und Sommerreifen verhält sich bei Tempo 40 an der nächsten Steigung solidarisch. Alles steht, rutscht, warnblinkt, glitzert im künstlichen Lichtermeer aus weiß, rot, gelb. Ab und zu blau. Schnee, Schnee und nochmal Schnee. Der Vogelsberg macht seinem Ruf der Wetterscheide alle Ehre. Es ist mittlerweile Nachmittag. Ungläubig der Situation und satt des Schweigens visueller Kontakt zu Staugenossen. Rechts ein schneebeketteter 40-Tonner aus Österreich mit Fichtenholz. Der Fahrer, Seppi, der nur müde das bisschen Schnee belächelt. Vorne zwei Studentinnen – ich glaube Kerstin und Doris aus Göttingen. Es ist still draußen, beide Richtungen stehen. Gedämpftes Motorengeräusch von denen, die noch genug Sprit haben. Es wird dunkel, kalt, kälter. Zum Glück noch zwei Schlafsäcke von der letzten Party im Kofferraum. Damit lässt es sich aushalten. Ein dumpfes Patsch weckt mich aus meiner Döserei. Ein Schneeball in Kopfhöhe hat die Seitenscheibe getroffen. Draußen lachen sich Kerstin und Doris in den Fäustling. Steige aus, ein erster Wortwechsel. Seppi kommt dazu. Einer hat die Idee einen Schneemann zu bauen. So rollen wir im gegenseitigen Wettstreit Schneekugeln und bauen einen fast zwei Meter hohen. Gesicht aus guter österreichischer Fichtenrinde. Als Hut stiftet Seppi noch einen alten Blecheimer. Der Vollmond beleuchtet die Szenerie. Klarer Nachthimmel. Die Landschaft leuchtet wie eine Weihnachtspostkarte mit Alpenmotiv. Aus den Autos um uns herum sind skeptische Blicke zu spüren – wer sind die vier? – ist zu erraten. Unser Ösi Trucker lädt ins gemütlich geheizte Führerhaus ein. Es könnte auch eine Berghütte sein. Tee, Kaffee, Schokolade, Tiroler Speck, Studentinnengeburtstagskuchen, der eigentlich für den nächsten Tag gedacht ist. Jeder gibt was er/sie hat. Jeder nimmt ohne Allüren. Es hat etwas von Lagerfeuerromantik, fast kommt der Wunsch auf, dass es weiter schneit. Die beiden Mädels bekommen einen Schlafsack. Geliehen. Wo kommst Du her, wo fährst Du hin? Wie lange wird es noch dauern, wer wartet auf wen? Gespannt darauf, was sagt der Verkehrsfunk jetzt? Irgendwann um Mitternacht löst der Stau sich auf. Die nächste Ausfahrt ist meine. Streuwagen bahnen den Weg. Der Parkplatz direkt an der Dorfkirche wird meiner. Die Rückbank des Fords wird zum Bett. Den Schlafsack bekam ich nach ein paar Wochen zugeschickt. Habe nicht darauf gewartet, wusste er kommt. Erinnere mich gerne an diese 36 Stunden – an Schweden, an den Vogelsberg. Wäre das mit Google Maps, Warnwetter.de, Facebook, Twitter oder WhatsApp auch so passiert? Geduld ist, wenn man trotzdem Lacht!


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