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Der Wille zählt

Brauchtum? Brauch ich nicht. Mit dieser Einstellung zu Maibäumen und -herzen bin ich als Stadtkind bis zur zwölften Klasse ganz gut durchgekommen. Erleichternd für jegliche Verweigerung kam noch hinzu, dass das Interesse am anderen Geschlecht zu dieser Zeit recht unausgeprägt war, da es wichtigere Dinge zu tun gab: Videoabende, Netzwerk-Abende mit Ballerspielen, Grillabende – alles durchweg eher Veranstaltungen, die junge Damen Ende er 90er Jahre lieber mieden. Die Welt war in Ordnung – bis sich ein hoffnungslos verliebter Kumpel dazu entschloss, seiner Holden einen Maibaum zu setzen. Und ich bin nicht schnell genug weggelaufen, als er um Hilfe bat. Die Nacht wurde zur Katastrophe. Und blieb dennoch – oder deswegen – in Erinnerung.

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Foto: pixabay
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Es hätte mich schon stutzig machen sollen, als er eine gefühlt fünf Meter lange Birke aus er Garage zog (beinahe hätte ich „Wald“ geschrieben…), um sie auf dem Dach des von seinem älteren Bruder geliehenen Kombis festzuzurren. Sämtliche zur Verfügung stehende Freizeit wurde im Vorfeld ganz offensichtlich in die Produktion von „Plüme“ investiert, denn während der Baum vortrefflich geschmückt war, wurde die Befestigung auf dem Dach eher stiefmütterlich vorbereitet und ausgeführt. „Wir nehmen Nebenstrecken“, lautete die erste und nicht letzte Fehleinschätzung des Abends. Ich weiß bis heute nicht, ob es daran lag, dass er im Schritttempo auf der Landstraße unterwegs war, oder einem der Polizisten aufgefallen war, dass der Baum derart gut gesichert war, dass er vorne auf der Motorhaube abgestützt wurde – und hinten zur besseren Balance noch einen Meter überstand. Jedenfalls begann die Odyssee von einem Tagebau-Randdorf zum übernächsten mit einem freundlichen „Hallo, Jungs, Fahrzeugpapiere und Führerschein, bitte“ und einer Alkoholkontrolle.

Weil diese erfreulich negativ ausfiel, gab es eine mündliche Verwarnung zum Thema Ladungssicherheit – und die Fahrt wurde noch langsamer und dieses Mal mit Warnblinkanlage fortgesetzt. Am Ziel angekommen, fiel der Baum beim Bremsen beinahe schon vor die richtige Haustüre. Hätten wir gewusst, wie viel Arbeit es macht, geschmücktes Brennholz mit Werkzeug aus dem Kaugummi-Automaten an einem Fallrohr zu befestigen, hätten wir den Job lieber bei Myhammer.de eingestellt. Das Internet gab es damals aber noch nicht wie heute – und im Handschuhfach lagen keine Gelben Seiten. Jedenfalls war die handwerkliche Performance zweier angehender Abiturienten derart erbärmlich (und vor allem laut), dass irgendwann der genervte Vater der Angebeteten aus dem Haus stapfte, uns Platzverbot erteilte und den Baum selbst an die Wand nagelte. Vielleicht hätten wir direkt jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt.

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Weil aber der Wille zählt, waren wir zufrieden, setzten uns ins Auto und fuhren zurück zum Start, wo es auf der lokalen Maifeier noch viel zu fettiges Essen und viel zu starke alkoholische Getränke gab. Dieser Abend voller Überraschungen endete mit einer weiteren Premiere: dem Besuch eines Dixie-Klos gegen 4 Uhr in der Früh, das schon bessere Tage gesehen hatte. Zur allgemeinen Erheiterung gab es kein Toilettenpapier mehr, aber dafür eine Menge flüssiges fettes Essen, das keine Lust hatte, ordentlich verdaut zu werden. Quizfrage: Wie weit kommt man in solchen Situationen mit zwei Tempos in der Hosentasche? Wie gerne hätte ich die scheiß Gelben Seiten dabeigehabt.


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