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Auf‘s Rauschen lauschen

Wellen empfangen

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Das Rauschen vom Meer | Foto: Hack
Die Flasche im Sand | Foto: Hack
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Das Rauschen. Das des Meeres und das der Wälder, das von Theodor Storm oder Adalbert Stifter, das der Wogen von Courbet oder Nolde, Wunschbilder, Seelenkulissen. Auch das Rauschen von Musselin beim Vorüberziehen weit geschnittener Gewänder, Belle Epoque, weiche Wollstoffe, die sich an die Rundungen ihrer Trägerinnen schmiegen. So gesellt sich ein Rauschen zum anderen. Für den Jäger ist es die Brunst des Schwarzwildes und der Winzer nennt den gärenden Most der roten Traube roter Rauscher. Im Alten Testament kündigt es vom Herannahen himmlischer Boten.

Rauschen, Rausch, Geräusch, seltsam vage Worte, die aus einem gemeinsamen Wortstamm rührend in verschiedene Richtungen gehen, ohne je ganz anzukommen oder in einer Eindeutigkeit ihren Frieden zu finden. Keine Wörter wie Haus oder Baum. Nichts Exaktes, eher Potentiale, es bleibt ein unteilbarer Rest.  So halten wir das Haus einer Meeresschnecke an das Ohr, um darin das Rauschen des  Meeres zu vernehmen, aus dem sie stammt.  Bekanntlich bedeckt es mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche und wo es an die Ufer schlägt, da ist ein Rauschen.

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Für Goethe war alles Irdische nur ein Gleichnis und so streiten sich auch in uns die formlosen 70 Prozent unserer wässerigen Substanz mit den stabilen Teilen, aus denen wir jenes Bild formen, von dem wir glauben, es zu sein. Jenes Eiland, das wir Ich nennen und an dessen Ufer die Brandung unseres Wassers schlägt, mit einem Rauschen, das wir Sehnsucht, Melancholie oder Glück nennen. Wogen, die von uns abtragen und unsere Form verändern. Jeder ist so eine Insel.

In der  Physik kennt man ein rosa, blaues oder weißes Rauschen. Das weiße steht parallel zur Farbe Weiß, es enthält alle übrigen Schallschwingungen, so wie das Weiß alle anderen Farben birgt. Man soll es als Einschlafhilfe für Babys nutzen können. Das leuchtet ein:  wo nichts fehlt, da kann man getrost die Augen schließen.

Das Rauschen meiner Kindheit aber war das Kauern vor dem Meterband mit den Sendestationen, Namen wie Beschwörungen: Lillehammer, Stavanger, Beromünster. So wie Kinder an der Küste Flaschen aus der Brandung ziehen und darin Botschaften vermuten, so bewegte ich den Anzeiger durch die Wellenlängen, bis der grüne Lichtimpuls der Elektronenröhre, das magischen Auge, sich zu einem Strich bündelte und eine Stimme oder Musik das Rauschen wie einen Vorhang zur Seite schob. Ich saß im Licht des Meterbandes, das mir die Buchstaben der Sendestationen auf das Gesicht projizierte und je stärker das Rauschen, je weniger deutbar die Klangfetzen, desto empfangsbereiter wurde ich.

Unter Pfeifen und Knacken drifteten Worte und Klänge in immer weiter werdenden Schleifen in einen magischen Raum ab, als würden sie in den Orbit gezogen. Ich ließ die Peilung durch das Meterband schnellen, um das Programm auf einer andern Frequenz zu erwischen, aber kaum dass ich ihn hatte, legte sich ein anderer Sender darüber. Sie überschnitten sich, gingen zu Boden, kämpften sich hoch und ich war Charles Lindbergh auf dem Ozeanflug und versuchte meine Maschine über den Wogen und auf der Wellenlänge von Le Bourget zu halten.

So träumte ich, später war es die Musik. Auf UKW trat das Rauschen zwar fast völlig zurück, aber hier sprach alles Deutsch und der ganze Habitus war mir hinlänglich bekannt. Mein Eldorado waren die Mittel- und die Kurzwelle. Hier war ganz Europa, Romanisches, Slawisches und die Arten der Moderationen eröffneten völlig fremde Formen und Temperamente, dieses Exaltierte, das Mitsingen und in die Songs sprechen. Ein ganz neuer Stil und in westfälischen Tälern so unbekannt wie Auberginen.

Es war das Jahrzehnt der Musik, Beatles, Stones, der Kampf um die Wellenlängen begann und auf dem Meterband wie vor den Küsten tauchten die Piratensender auf. 1964 ging das ehemalige deutsche Feuerschiff Borkum Riff III unter panameischer Flagge als Radio Veronica vor Katwijk auf Sendung. Jenseits der 3-Meilenzone und der staatlichen Hoheitsrechte, eine geradezu mystische Institution. Der feuerrote Rumpf, der bei schwerer See an den Ankerketten zerrte und während Heck und Bug sich auf den Wogen umtanzten, legten die DJs, wie bei solchem Seegang auch immer, ihre Platten auf. Diese Sender waren niemals klar, das Rauschen und Abdriften, das war ihr Nimbus. Dazu gehörte untrennbar die Wärme des Vinyls. Schon mit dem  Aufsetzen der Nadel gab es diese aufgeladene Stille in der Rille, ohne dass die Aufnahme schon begonnen hätte. Das Rauschen der Erwartung. In den Frühjahrsstürmen 1974 reißt sich die Borkum Riff III von den Ankerketten und Radio Veronica wird vor Scheveningen auf den Strand geworfen.

Rauschen, Rausch, Geräusch, nichts Exaktes, eher Potentiale, Analoges mit unscharfen Rändern, so wie wir selbst. Auch die Künste sind voll davon. Das Zerfallen von Silberbromid unter Licht, das Silber schwärzt sich in samtigen Graustufen, das Brom entweicht. Wenn wir ein Gehör dafür hätten, bestimmt mit einem Rauschen. Der Saphir schabt den Klang vom Vinyl, hauchzarte Späne, die sich in Klang verwandeln. In der Essenz verduftet sich die Rose zu Parfum.

Dank der Digitalisierung leben wir heute eher rauschfrei, statt Essenzen Polycarbonate und aus jeder Welle wird eine Treppe gerechnet. Das Navi schützt uns vor jeglicher Verirrung und wenn wir dann auch bald alle 100 Jahre alt werden, würden wir spätestens mit 30 vor lauter Berechenbarkeit flach wie eine CD geworden sein, wenn nicht diese 70 Prozent Wasser in uns wären. Wasser, das über eine Treppe fließend, alles wieder in rauschende Kurven verwandelt, das Strudeln nie gleicher Wellen, wie auf der riesigen Fischtreppe am alten Mühlenwehr bei Linnich. Die Welt ist rund und rauscht. Selbst das Gehirn ist ein Rauschen, die Frequenz des EEG, die Heftigkeit der grafischen Ausschläge sind ein visualisiertes Rauschen, etwas in Bereitschaft, sich aus den Wellen Gedanken, Bilder und Erinnerungen auszufällen. Ich halte die Muschel ans Ohr, Rauschen, das Meer, das EEG, Hirnströme in Bereitschaft, Empfangen und Senden, Empfangen.


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